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I^RAPHISCHES JAHRBI

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EUTSCHER NEKROLOi

UNTKR STANDIGER MITWIRKUNG

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1 GUIDO ADLER, F. VON BEZOLD, ALOIS BRANDL, ERNST ELSTER. AUGUST POURNIBR, ADOLF FREY, HEINRICH FRIEDJUNG, LUDWIG GEIGER,

I KARL GLOSSY. HAX GRUBER> SlGIfUND cOnTHER, EUGEN CUGUA,

ALFRED FRSIHERRN VON HENSI, JACOB MINOR, PAUL SCHLENTHER.

ERICH SCHUIDT, ANTON E. SCHÖNBACH, GEORG WOLFP U. A.

HERAUSGEGEBEN

VON

ANTON BETTELHEIM

Va BAND

VOM I. JANUAR BIS 3t. DEZEMBER 1902 HIT DEM BILDNIS VON RUDOLF V18CH0W DI HSUOGRAVUKB

VERLAG VON GEORG REIMER, BERLIN H 1906.

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BIOGRAPHISCHES JAHRBUCH

UND

DEUTSCHER NEKROLOG

UNTER STÄNDIGER MITWIRKUNG

VON

GUIDO ADLER, F. VON BEZOLD, ALOIS BRANDL, ERNST ELSTER, AUGUST FOURNIER, ADOLF FREY, HEINRICH FRIED JUNG, LUDWIG GEIGER, KARL GLOSSY, MAX GRUBER, SIGMUND GÜNTHER, EUGEN GUGLIA, ALFRED FREIHERRN VON MENSI, JACOB MINOR, PAUL SCHLENTHER, ERICH SCHMIDT, ANTON E. SCHÖNBACH,

GEORG WOLFF u. A.

HERAUSGEGEBEN

VON

ANTON BETTELHEIM

VII. BAND

VOM I. JANUAR BIS 31. DEZEMBER 1902

MIT DEM BILDNIS VON RUDOLF VIRCHOW IN HELIOGRAVÜRE

BERLIN

DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER

1905.

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Inhalt.

Seite

Vorrede v— vi

Deutscher Nekrolog vom i. Januar bis 31. Januar 1902 i 361

Ergänzungen und Nachträge 362 465

Alphabetisches Namenverzeichnis I 466

Alphabetisches* Namenverzeichnis II 472

Totenliste 1902 i* 132*

Vorwort

Band VI, der im Frühjahr mit den Biographien der 1901 Ge- schiedenen veröffentlicht wurde, folgt unserem Vorsatz gemäß im Herbst der vorliegende Band VII mit den Nekrologen der 1902 Heim- gegangenen. Bleibt uns, woran kaum zu zweifeln ist, der Beistand unserer fachmännischen Berater und die Bereitwilligkeit ständiger und gelegentlicher Mitarbeiter auch in der Folge so treu wie bisher, dann dürfen wir im Frühling 1905 Band VIII mit den Biographien der 1903 Verewigten und im Herbste des . nächsten Jahres Band IX mit dem Deutschen Nekrolog für 1904 bringen. Derart würden wir alle durch die zeitweilige Pause im Erscheinen des Biographischen Jahrbuches verursachten Rückstände aufgearbeitet und neuerdings unsere ursprüngliche Absicht verwirklicht haben, einen mit Jahr und Tag gehen- den Nekrolog zu bieten. Daß diese Beschleunigung unserer Publikationen der Gediegenheit des Textes keinen Eintrag tut, bezeugen die wichtig- sten Beiträge dieses Bandes: König Albert von Sachsen wird von Otto Kaemmel gewürdigt; die Staatsmänner Richard Belcredi, Bennigsen, Goßler fanden in Graf Friedrich Schönborn, Her- mann Oncken und Wilhelm Seh rader sachkundigste Biographen; den Geschichtschreibern Adolf Beer, Büdinger, Ficker, Kalten- brunner, Krones widmen Pribram, Bauer, Voltelini, Redlich und Uhlirz als berufene Gewährsmänner wohlabgewogene Charakte- ristiken; Lord Actons Lebenslauf schildert Lady Blennerhasset; das Lebenswerk von Virchow und Buchner prüfen v. Hansemann und Gruber. Den Lebenslauf von Bielschowsky zeichnet Gotthold Klee, die Charakteristik von Otto Gildemeister gibt Arthur Fitgen Über diesen Hauptartikeln wurden die anderen Biographien nicht ver- nachlässigt. Goswina v. Berlepsch erzählt die Schicksale der unglück- lichen Antonie Baumberg, Wolfgang Golther gibt ein Bild von

\T Vorwort.

Mathilde Wesendonk, Arthur Eloesser widmet Elsbeth Meyer- Förster, Hugo Thimig seinem Lebensfreund Hermann Schoene ein Gedenkblatt.

Wesentlich gefördert in unseren Bemühungen, für jede Biographie den geeignetsten Bearbeiter zu finden, wurden wir durch alte und neue Freunde des Deutschen Nekrologes. Einer der ältesten und verehrtesten Schutzgeister unseres Unternehmens, Friedrich Ratzel, ist uns zu unserem Schmerz durch jähen Tod entrissen worden. Von Anfang an stellte er sich in den Kreis unserer Mitarbeiter: die »Biographischen Blätter« beschenkte er mit den Studien >>Leonhard Rauwolf« und »Eduard Vogels Tod«. Zur Umwandlung der »Biographischen Blätter« in ein Bio- graphisches Jahrbuch und insbesondere zur Begründung des »Deutschen Nekrologes<: gab er entscheidenden Anstoß. \ In den meisten Bänden durften wir Beiträge aus Ratzeis Feder mitteilen: seinen Nekrologen auf Rohlfs und Oskar Baumann, die frühere Bände schmückten, schließt sich im vorliegenden Band sein Nachruf für Bruno Hassenstein an. Damit war Ratzeis Anteil lange nicht erschöpft; Ratzel war ein uner- müdlicher Berater und Fürsprecher des Deutschen Nekrologes in kleinen und großen Fragen, dem unser Unternehmen wie die biographische Kunst und Forschung dauernd zu Dank verpflichtet bleibt

Eine Reihe neuer ständiger Ratgeber haben wir dem Biographischen Jahrbuch gewonnen: den Musikhistoriker Prof Guido Adler in Wien, den Hygieniker Prof. Max Grub er in München und den Universitäts- bibliothekar Dr. Georg Wolff in München.

Unter den Ergänzungen und Nachträgen weisen wir insbesondere auf die Nekrologe von Kaiserin Viktoria, Fürst Chlodwig Hohen- lohe, Lothar v. Schweinitz, Baron Hopfen, H. v. Sicherer und W. E. Wahlberg hin, die Dank den Biographen Karl Schrader, Ernst Hauviller, Thilo Krieg, Friedrich Schmid, Lothar Seuffert und Edmund Benedikt dauernde Beachtung beanspruchen dürfen.

Wien, 23. Oktober 1904. Anton Bettelheim.

DEUTSCHER NEKROLOG

VOM I. JANUAR BIS 3i. DEZEMBER

1902

Homo über de nulla re minus quam de morte cogitat et ejus sapientia non mortis, sed vitae meditatio est.

Spinoza. Ethices par;5 IV. Propos.

Lxvn.

BiogT. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog. 7. Bd.

Deutscher Nekrolog vom i. Januar bis 31. Dezember 1902.

Albert, August Friedrich, König von Sachsen, * 23. April 1828 in Dresden, f ^9- J""' 1902 in Sibyllenort. Seine Geburt sicherte dem Alber- tinischen Hause die Fortdauer und wurde schon deshalb im ganzen Lande mit größter Freude begrüßt. Inmitten mehrerer bald folgender jüngerer Ge- schwister und eines großen Verwandtenkreises wurde der junge Prinz, in dem man schon damals den künftigen Thronfolger und König sah, aufs sorg- fältigste und liebevollste unter den Augen seiner Eltern, des geistvollen fein- gebildeten Prinzen Johann und seiner Gemahlin Amalie von Bayern, Tochter des Königs Maximilian I., und seines Großvaters, des trefflichen Prinzen Maximilian, erzogen; auch der greise König Anton (1827 1836), Prinz Friedrich August, der Bruder Johanns, und Prinzessin Amalie, die Verfasserin zahlreicher Lustspiele aus dem bürgerlichen Leben, hatten ihre Freude an dem lebhaften, aufgeweckten, wißbegierigen Knaben, und das reiche, geistige Leben, das damals in Dresden herrschte, übte bald einen gewissen Einfluß auf seine Entwicklung. Noch vor Vollendung des siebenten Lebensjahres, im Januar 1835, gab ihm der Vater einen trefflichen Erzieher in der Person des protestantischen Juristen und Historikers Albert von Langenn und bezeich- nete als Hauptaufgaben »die frühzeitige Erweckung des vaterländischen Sinnes, seine tiefbegründete Achtung für positives Recht und Anknüpfung der bürger- lichen Ordnung an ein höheres Prinzip, Bekämpfung unzeitigen Stolzes auf die Geburtsstellung, sorgfältige humanistische Bildung, Pflege des reli- giösen Sinnes in positiv kirchlichem Geiste, jedoch ohne allen Widerwillen gegen andere Konfessionsverwandte«. Den Religionsunterricht erteilte der Hof- prediger Joseph Dittrich, die Unterweisung im Latein (1838 43) der Kon- rektor an der Dresdener Kreuzschule, Dr. Julius Sillig, der bald die auf- richtige Anhänglichkeit des Knaben gewann. Früh erwachte in diesem ein besonders lebhaftes Interesse für Geschichte. Kleine Reisen nach Prag und München und Besuche fürstlicher Verwandter erweiterten gleichzeitig seinen Gesichtskreis; seine Freundschaft mit dem späteren Kaiser Franz Joseph, seinem Vetter, stammt aus dieser Knabenzeit. Bald aber trat das militärische Interesse, obwohl es weder in der Eigenart des Vaters noch in den jüngeren Traditionen des ganzen Hauses ein Vorbild fand, so entschieden hervor, daß Prinz Johann ihm 1839 einen militärischen Erzieher, den Oberleutnant Fr. A. von Minckwitz, gab und ihn militärisch planmäßig ausbilden ließ. Bald nach seiner Firmung (22. Oktober 1842), im Sommer 1843, trat Albert beim

I*

4 König Albert.

Leibinfanterieregiment ein und erhielt am 24. Oktober desselben Jahres sein Leutnantspatent. Es war der Anfang der glänzendsten militärischen Lauf- bahn, die jemals ein Fürst des Hauses Wettin zurückgelegt hat. Daneben wurde die wissenschaftliche Ausbildung sorgfältig fortgesetzt und am 13. März 1845 "^^^ einer förmlichen Reifeprüfung abgeschlossen, wie es seitdem im sächsischen Königshause üblich geblieben ist. Nach dem Urteile seines Er- ziehers erschien er damals als human, ernst religiös, voll Vaterlandsliebe und Achtung vor dem Rechte, von schneller Auffassungsgabe und von lebendigem Wirklichkeitssinne, voll Interesse für Geschichte und Politik und als ein ganzer Soldat. Ein juristischer Kursus beim Appellationsgerichtsrat Dr. Robert Schneider und mehr vielleicht noch zahlreiche eingehende Gespräche über die Ereignisse der immer bewegteren Zeit, die er auf Jagden und Ausflügen mit seinem Oheim, dem König Friedrich August II. (1836 54), führte, be- reiteten ihn zu dem Besuche der Universität Bonn (seit November 1847) vor. Im Verkehr mit fürstlichen Standesgenossen, dem Prinzen Friedrich Karl von Preußen und dem Erbprinzen Friedrich von Baden, wie mit den angesehen- sten Professoren der Hochschule, E. M. Arndt, M. A. v. Bethmann-Hollweg, Fr. Chr. Dahlmann und Cl. Perthes (mit dem er auch später brieflich oft ver- kehrte), ging ihm hier eine neue Welt auf.

Der Ausbruch der Bewegung von 1848 zwang ihn am 24. März sehr gegen seine Neigung, Bonn zu verlassen und in die Heimat zurückzukehren. Aber er hatte genug gelernt, um die verwirrenden Erschütterungen dieses stürmi- schen Jahres mit besonnenem, klarem und unbefangenem Urteil zu würdigen. Die »Braupfanne deutscher Einigkeit« nannte er das Frankfurter Parlament, das so manchem seiner Standesgenossen schlechthin als revolutionär galt; er beneidete »unsern Friedrich Karl«, daß er am schleswig-holsteinischen Feld- zuge teilnehmen durfte, und erhielt voll Freude die Erlaubnis, die mobile sächsische Brigade, die nach dem Ablaufe des Waffenstillstandes von Malmö im März 1849 nach Schleswig auszog, als Hauptmann der Artillerie im Stabe des Oberbefehlshabers, des Generals von Prittwitz, zu begleiten. Mit seinen preußischen Kameraden, tapferen und gebildeten Männern, lebte er sich bald völlig zusammen; beim Sturm auf die Höhen von Düppel am 13. April war er mitten unter den sächsischen Truppen im Feuer, dann machte er den Feldzug des Reichsheeres bis Aarhus in Jütland mit. »Der Krieg«, schrieb er damals am 19. April, »ist das erste Zusammenwirken der deutschen Stämme zu einem Ziele, es ist dies der wahre Weg der Einigung, und diese Bahn zu eröffnen ist es Pflicht namentlich des Fürsten, vorauszugehen und gelte es das Leben, denn die Monarchie stirbt nicht durch den Tod eines Gliedes, aber Deutschland geht zugrunde, wagt es nicht durchzukämpfen. Für mein Volk habe ich ein Herz.« Einen militärisch-politischen Anschluß Sachsens an Preußen, einen engeren Bund unter der Führung Preußens mit einheitlichem Wahlgesetz und gemeinsamer Armee, zeitweise selbst eine unbedingte Dik- tatur hielt er damals für geboten, seinen eigenen Eintritt in die preußische Armee für rätlich (3. Mai). Die Hülfe, die eben damals preußische Bataillone den schwachen sächsischen Truppen zur Niederwerfung des Dresdener Mai- aufstandes leisteten und der Abschluß des »Dreikönigsbündnisses« zwischen Preußen, Sachsen und Hannover am 26. Mai, der Anfang des »engeren Bun- des« unter preußischer Führung, nachdem sich das Frankfurter Parlament am

König Albert. ^

i8. Mai aufgelöst hatte, schienen seinen Gedanken die Erfüllung zu bringen. Aber der Waffenstillstand von Berlin am lo. Juli, mit dem Preußen das be- freite Schleswig-Holstein abermals preisgab und sein Ansehen aufs tiefste schädigte, also die Vorbedingung jedes politischen Erfolges zerstörte, beendete den Feldzug, und schweren Herzens kehrte Albert im Juli über Berlin nach Dresden zurück. In einem Briefe an den Vater vom i6. August stellte Pritt- witz seiner »Verachtung der Kriegsgefahren«, seiner Kaltblütigkeit und seinem Geschick im Verkehr mit Offizieren und Soldaten das ehrenvollste Zeugnis aus. In der Heimat übernahm Albert im Oktober 1849 als Major das Kom- mando eines Infanteriebataillons in Bautzen und erlebte die neue Formierung der ansehnlich verstärkten (fast verdoppelten) Armee in fünf Infanteriebrigaden zu 4 Bataillonen. Sein Bataillon gegen seine preußischen Kameraden ins Feld führen zu müssen, wie es der Abfall Sachsens vom Dreikönigsbündnis und der Konflikt zwischen Preußen und Österreich im kurhessischen Ver- fassungsstreit im November 1850 unvermeidlich zu machen schien, ersparte ihm die unrühmliche Abkunft von Olmütz, also das Zurückweichen Preußens; aber die einfache Wiederherstellung des anerkanntermaßen völlig unzuläng- lichen Deutschen Bundes nach den ergebnislosen Dresdener Konferenzen (Dezember 1850 bis Mai 185 1) brachte Sachsen in die gefährliche Lage, poli- tisch sich an Österreich zu lehnen und wirtschaftlich mit Preußen durch den Zollverein unzertrennlich verbunden zu sein. Ohne sich an den politischen Dingen besonders zu beteiligen, widmete Albert diese Jahre vor allem seiner weiteren militärischen Ausbildung, seit Dezember 1850 als Oberst, seit Dezem- ber 185 1 als Generalmajor. Er wohnte im Sommer 1852 mit dem Prinzen Frie- drich Wilhelm von Preußen den russischen Manövern bei St. Petersburg bei, im September den österreichischen in Ungarn. In Österreich lernte er auch die anmutige Prinzessin Carola von Wasa, die Tochter des Prinzen Gustav von Wasa und der Prinzessin Luise von Hohenzollem, kennen, und am 18. Juni 1853 vermählte er sich mit ihr. Im nächsten Jahre rief der jähe Tod des Königs Friedrich August am 9. August 1854 seinen jüngeren Bruder, den Prinzen Johann, auf den Thron, und Albert wurde Kronprinz.

Damit rückten ihm nun auch die politischen Dinge näher. Er übernahm im April 1855 den Vorsitz im Staatsrat und trat im Mai 1862 in die Erste Kammer ein, beteiligte sich also an der Vorbereitung und der Beratung aller der Gesetze, die in diesen Jahren das sächsische Gerichtswesen (mit Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit) umgestalteten, 1856 ein neues Strafgesetzbuch, 1865 ein neues Bürgerliches Gesetzbuch einführten und 1861 die Gewerbefrei- heit gewährten. Sein besonderes Interesse blieb dem Heerwesen umsomehr zugewandt, als nach den Erschütterungen des Krimkrieges 1853 56 der italie- nische Krieg 1859 Deutschland nahe berührte und die Erfahrungen bei der vom Bundestage beschlossenen Kriegsbereitschaft die Reformbedürftigkeit der Bundeskriegsverfassung ins hellste Licht setzten. Bildeten doch die aus den Kontingenten mehrerer Staaten zusammengesetzten Armeekorps, das VIII., IX. und X., weder in Uniformierung noch in Ausrüstung und Exerzitium eine Einheit und wurden kaum zu Manövern einmal zusammengezogen. Zum kommandierenden General des IX. Armeekorps (Sachsen, Kurhessen, Nassau, Luxemburg) ernannt, durchschaute Albert auf Inspektionsreisen bald die ge- fährlichen Gebrechen dieser Zustände. Aber der mittelstaatliche Gedanke,

5 König Albert.

die Truppen der Mittel- und Kleinstaaten zu einer höheren Einheit neben den Heeren der beiden Großmächte zusammenzufassen, also eine militärische Trias zu bilden, scheiterte in langen Verhandlungen 1859 1861 ebensowohl an der Uneinigkeit der zunächst beteiligten Staaten wie an dem Widerspruch der beiden Großmächte, die den einfachen Anschluß der kleinstaatlichen Truppenkörper an ihre eigenen Armeen für das zweckmäßigste hielten. Nichts- destoweniger wurde an der Vervollkommnung des sächsischen Heerwesens rüstig fortgearbeitet; die Infanterie erhielt eine neue kleidsamere und zweck- mäßigere Uniform (hellblau), die Artillerie gezogene Hinterlader. Der Kron- prinz selbst nahm 1861 an den großen preußischen Manövern in der Rhein- provinz teil und leitete im Herbst desselben Jahres die sächsischen Manöver in der Oberlausitz.

Auch der Gedanke einer Reform der Bundesverfassung, deren Notwendig- keit niemand besser erkannte als König Johann und Kronprinz Albert, be- schäftigte ihn in diesen Jahren fortwährend, und da Sachsen nach seiner ganzen Lage bei einem feindlichen Zusammenstoß Preußens und Österreichs, der näher und näher rückte, seitdem Preußen mit der Übernahme der Regentschaft durch den Prinzen Wilhelm 1858 seine früheren Bestrebungen auf Begründung eines Bundesstaates mit »preußischer Spitze« immer sichtbarer wieder aufnahm, überaus gefährdet war, mehr als jeder andere Mittelstaat, so bemühte sich die sächsische Politik um eine friedliche Lösung der Gegensätze und suchte nach beiden Seiten freundliche Beziehungen zu unterhalten. Deshalb wohnte Albert auch der Krönung König Wilhelms I. in Königsberg am 18. Oktober 1861 bei und vertrat in seiner ersten Rede, die er am 24. Juli 1862 in der Ersten Kammer hielt, die Annahme des Handelsvertrags mit Frankreich, von der die Erneuerung des Zollvereins abhängig war, also den engsten wirt- schaftlichen Anschluß an Preußen. Eine vermittelnde Haltung nahm König Johann auch auf dem Frankfurter Fürstentage im August 1863 ein, der die Bundesreformfrage im österreichischen Sinne lösen sollte, dessen Einberufung aber in Dresden keineswegs angenehm überraschte; als Johanns Versuch, den König Wilhelm, seinen alten Freund, nachträglich zur Teilnahme zu bewegen, gescheitert war und der Kronprinz in Wien erfahren hatte, daß die preu- ßischen Gegenvorschläge vom 22. September dort nicht auf Annahme zu rechnen hätten, da lehnte der König das Ansinnen Österreichs, das Frank- furter Reformprogramm nunmehr auch ohne Preußen, also gegen Preußen durchzuführen, rundweg ab, denn ein solcher Schritt würde den Riß unheil- bar gemacht haben.

Eine peinliche Folge dieser schließlich ablehnenden Haltung der Mittel- staaten gegenüber der österreichischen Politik trat bald hervor. Als die schleswig-holsteinische Frage mit dem Tode König Friedrichs VII. am 15. No- vember 1863 urplötzlich brennend wurde, und die Mittel- und Kleinstaaten, nachdem im Dezember sächsische und hannoversche Exekutionstruppen auf Bundesbeschluß Holstein besetzt hatten, den Antrag der beiden Großmächte, nun auch Schleswig als Faustpfand in Besitz zu nehmen, aber nicht, um es für Friedrich (VIII.) von Augustenburg zu sichern, sondern um die Anerkennung des Londoner Protokolls in Kopenhagen zu erzwingen, zurückwiesen, da ver- bündete sich Österreich am 14. Januar 1864 mit Preußen zur gemeinschaftlichen, selbständigen Durchführung dieser Politik und schob Bundestag und Mittel-

König Albert 7

Staaten kurzweg bei seite. Aufs schmerzlichste empfand es damals Prinz Albert, daß damit auch den sächsischen Truppen die Teilnahme an dem glän- zenden dänischen Feldzuge versagt blieb, und er bemühte sich in Berlin, sie noch durchzusetzen, fand aber bei der Mehrheit des Bundestages kein Gehör. Unbeirrt dadurch trat er damals in der Ersten Kammer für die Erneuerung des Zollvereins als Referent ein und wies andrerseits bei der Beratung über eine Vermehrung des sächsischen Offizierkorps am 27. Mai 1864 sehr ernst auf die ernste Lage hin, bei der es bald nicht mehr darauf ankommen könne, was Sachsen in Industrie, Kunst und Wissenschaft leiste, sondern wo die Frage gestellt werden würde: »Wie haben sich unsere Sachsen geschlagen?« Das friedselige Geschlecht dieser Tage verstand ihn nicht, und doch mußte es erleben, daß nach dem Wiener Frieden vom 30. Oktober 1864, der die Eibherzogtümer an Preußen und Österreich abtrat, ohne jede Mitwirkung des Bundestages, die Bundestruppen einfach aus Holstein herausgedrängt wurden und daß Sachsen im Dezember bis dicht an den bewaffneten Konflikt mit Preußen kam.

Seitdem im Februar 1865 der Versuch Preußens, sich mit Österreich über Schleswig-Holstein auf Grund eines engen politischen, militärischen und wirt- schaftlichen Anschlusses der Herzogtümer an Preußen zu verständigen, ge- scheitert war, lenkte Österreich wieder zu den Mittelstaaten hinüber, beschwor damit aber auch den offenen Konflikt herauf, den die Konvention von Gastein am 14. August nur eben weiter hinausschob. Ohne Schwanken hat da Sachsen seine Stellung genommen, da das Bundesrecht ihm am besten seine Selb- ständigkeit zu verbürgen schien, ein Bundesstaat unter preußischer Führung sie schmälern mußte, und mit klarer Entschlossenheit hat es seine militärischen Vorbereitungen schon seit dem März 1866 getroffen. Seit dem 20. Mai stand die mobilisierte sächsische Armee unter dem Oberbefehl des Kronprinzen in enger Aufstellung bei Dresden, um, da sich die Hoffnung auf bayrische Hülfe bald als ganz unsicher erwiesen hatte, entweder den Anmarsch der öster- reichischen Nordarmee abzuwarten oder den Abzug nach Böhmen anzu- treten, an demselben 20. Mai setzte sich Albert mit dem österreichischen Oberbefehlshaber, dem Feldzeugmeister L. von Benedek, in briefliche Ver- bindung. In seiner klaren, nüchternen Weise hatte er wenig Hoffnung auf Sieg. Schon am 9. Mai schrieb er an den Kriegsminister Rabenhorst: »Ruhm wird wenig zu haben sein, Ehre und Reputation aber oft auf dem Spiele stehen«.

Am 14. Juni 1866 fiel in Frankfurt mit dem Beschlüsse, die außer- preuflischen Kontingente zu mobilisieren, die Entscheidung, am Abend des 15. lehnte König Johann das preußische Ultimatum ab. Der preußische Ge- sandte verließ Dresden, und in denselben Stunden trafen die preußischen Vortruppen schon in Riesa ein. Am 16. wurde Dresden geräumt, am 18. Juni überschritten die sächsischen Truppen auf drei Straßen die böhmische Grenze, um über das Erzgebirge in den Teplitzer Talkessel hinabzusteigen. Aber erst nach heißen Märschen erreichten sie an der Iser die Spitzen der österreichi- schen Nordarmee, wo nun Albert das Kommando übernahm. Vor dem starken Andringen der zweiten preußischen Armee unter Prinz Friedrich Karl ent- schloß sich der Kronprinz am 28. Juni nach Gitschin zurückzugehen, wo er für den 30. Juni die Ankunft des Gros der Nordarmee von Josephstadt her

8 König Albert.

erwarten durfte; doch kam es an demselben Tage bei Münchengrätz noch zu einem scharfen Rückzugsgefecht. Am 29. nachmittags nahmen die Sachsen und Österreicher bei Gitschin den Kampf auf, bis am Abend die Depesche Benedeks eintraf, daß er angesichts des Einmarsches der Ersten preußischen Armee unter dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm in seiner rechten Flanke auf die Offensive verzichte und der Kronprinz sich auf die Hauptarmee bei Königgrätz zurückziehen müsse. Hier bezogen die Sachsen schon am i.Juli auf dem äußersten linken Flügel der Österreicher ihre Stellung bei Perschim und Problus, die sie sorgfältig für den bevorstehenden Entscheidungskampf vorbereiteten, und hier schlug Albert am 3. Juli tatsächlich eine fast selbstän- dige Schlacht gegen die Eibarmee. Selbständig gab er gegen 2 Uhr, als ihm das Zurückgehen der Feuerlinien im Nordosten zeigte, daß die Österreicher im Weichen seien und die Kugeln schon in seinen Stab einschlugen, auch den Befehl zum Rückzuge, den die Sachsen inmitten der allgemeinen Auf- lösung in fester Ordnung ausführten. In der Nacht überschritt er bei Par- dubitz die Elbe, selbst in fast verzweifelter Stimmung »ich wollte, ich läge tot auf dem Schlachtfelde«, sagte er; am 11. Juli erreichte er Olmütz. Von dort setzten die Sachsen ihren Rückzug teils geradewegs nach Wien, teils das Waagtal hinunter durch Ungarn nach der Donau fort, aber erst am 30. Juli war das ganze Korps östlich von Wien um das Hauptquartier Hetzendorf wieder vereinigt.

Inzwischen war am 22. Juli der Waffenstillstand eingetreten, am 26. Juli der Präliminarfriede von Nikolsburg abgeschlossen worden, der die Erhaltung Sachsens unter der Bedingung seines Eintritts in den Norddeutschen Bund zugestand. Seitdem arbeitete Albert eifrig und ehrlich an der möglichst günstigen Regelung der neuen Verhältnisse, besonders der militärischen. Darüber begannen die Verhandlungen nach der Entlassung Beusts (am 15. August). Da sie um Mitte September gänzlich ins Stocken gerieten, wollte der Kronprinz persönlich nach Berlin gehen, aber am 18. Oktober konnte König Johann in Karlsbad den Entwurf der Friedensurkunde unterzeichnen, am 21. Oktober kam der Friede in Berlin zum Abschluß und in den nächsten Tagen rückten die sächsischen Truppen in die Heimat ab. Am 26. Oktober kehrte König Johann mit den Seinen nach Pillnitz zurück, am 3. November nach Dresden. Die ehrenvolle Aufnahme, die der König und der Kronprinz am 16. Dezember in der preußischen Hauptstadt fanden, leitete das neue Bundesverhältnis hoffnungsreich ein, und beide bewiesen durch die pünkt- liche Gewissenhaftigkeit, mit der sie insbesondere die Neugestaltung der sächsischen Truppen als des XII. Armeekorps des norddeutschen Bundes- heeres nach der Konvention vom 7. Februar 1867 ausführten, daß das Ver- trauen König Wilhelms und Bismarcks in ihr Fürsten- und Manneswort voll- auf gerechtfertigt sei. Am i. April 1867 war die Neuformation abgeschlossen, im Juni erhielten die neugebildeten Truppenteile ihre Fahnen, im September konnte der Kronprinz das Armeekorps dem preußischen Inspekteur General von Fransecky vorführen und am 8. September 1868 nahm König Wilhelm als Bundesfeldherr in Dresden seine erste Parade über die i. sächsische Di- vision Nr. 23 ab. Albert selbst trat 1869 als Chef des 2. ostpreußischen Dragonerregiments Nr. 10 in persönliche Beziehungen zur preußischen Armee, knüpfte solche auch zu Graf Bismarck und zu Moltke an. Es war ein wohl-

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tuender Vertrauensbeweis, daß die preußischen Okkupationstruppen 1867/68 allmählich ihre sächsischen Garnisonen bis auf den Königstein räumten. So bewährte sich Sachsen als ein starkes und leistungsfähiges Glied des Nord- deutschen Bundes.

Als ein solches erschien es auch in dem Nationalkriege gegen Frank- reich 1870/71. Als Führer wie als Organisator erprobt, ging der Kronprinz Albert an der Spitze seines XII. Armeekorps am 29. Juli ins Feld, um von Mainz aus unter dem Oberbefehle des Prinzen Friedrich Karl durch Rhein- hessen und die bayrische Pfalz in Frankreich einzurücken, nachdem die Siege des 4. und 6. August die Bahn gebrochen hatten. In heißen Märschen er- reichte er die Mosel oberhalb von Metz und auf die Hochebene im Westen der Festung hinaufsteigend, auf die gelehnt Marschall Bazaine nach den blu- tigen Schlachten des 14. und 16. August von St. Privat bis Gravelotte seine feste Stellung genommen hatte, hatte er am 18. August den äußersten linken Flügel der deutschen Armee gegenüber St. Privat inne. Hier entschied sein Scharfblick und sein rascher Entschluß die Umgehung über Roncourt, die den glücklichen Sturm auf St. Privat ermöglichte. Schon am nächsten Tage erhielt Albert die Ernennung zum Oberbefehlshaber einer aus dem XII. und IV. Armee- korps und der Garde mit der 5. und 6. Kavalleriedivision zu bildenden selbständigen »Maasarmee«, und parallel mit der III. Armee des Kronprinzen von Preußen trat er über Verdun den Vormarsch auf Chälons an, wo man die französische Armee Mac Mahons vermutete. Da diese statt dessen zum Entsätze Bazaines in Metz nach Nordosten abmarschierte, so vollzogen die deutschen Heere die große Rechtsschwenkung, um ihr den Weg zu verlegen. Dabei stieß die Maasarmee zuerst auf den Feind, am 24. bei Busancy, am 27. bei Nouart, und drängte am 30. August den Marschall in der Schlacht bei Beaumont über die Maas nach Sedan zurück. Am frühen Morgen schon des I. September faßte Albert auf die Nachricht hin, daß die III. Armee unter- halb von Sedan die Maas zu überschreiten beabsichtige, den Entschluß, dem Feinde »auf den Leib zu gehen«, ihn von Osten her zu fassen. So trug er das Seinige zu dem glänzenden Siege bei, der den Kaiser Napoleon und seine Armee zur Kapitulation zwang, und begrüßte am Nachmittage des 2. September den König Wilhelm inmitten seiner Truppen auf dem Schlacht- felde. Als er am 4. September zu ihm ins Hauptquartier nach Vendresse kam, verlieh ihm der König das Eiserne Kreuz erster Klasse. Bei der Ein- schließung von Paris seit dem 19. September nahm er sein Hauptquartier erst in Grand Tremblay bei St. D^nis, seit dem 8. Oktober in Margency, und er verstand es, die Offiziere der verschiedensten Truppenteile, die ihn umgaben, in warmer Verehrung für den fürstlichen Oberbefehlshaber zu vereinigen. Mit dem Hauptquartier des Königs in Versailles (seit dem 5. Oktober) stand er allezeit im besten Einvernehmen, und Moltke spendete ihm damals das ge- wichtige Lob, er sei der einzige Prinz, der zu gehorchen verstehe, d. h. die Befehle des Oberkommandos sachgemäß und doch mit selbständigem Urteil ausführe. In der Frage über die Art und Weise des Angriffs auf Paris stand er (mit Roon) auf Seite der »Schießer«. Aber erst nach der blutigen Ausfalls- schlacht bei Brie und Champigny am 30. November und 2. Dezember, in der das sächsische Armeekorps die schwersten Verluste erlitt, drang diese Ansicht durch und am 27. Dezember wurde die Beschießung von den Batterien der

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Maasarmee auf der Ostfront eröffnet, am 21. Januar 187 1 auch auf der Nord- front, und nach der Übergabe von Paris am 28. Januar zog Albert am 29. Januar in St. D^nis ein.

Auch an den Verhandlungen, die zur Herstellung des Reichs und des Kaisertums führten, hat er einen gewissen Anteil gehabt. Schon am 22. August in Pont-ä-Mousson bei Metz trug ihm Graf Bismarck den Plan vor, einen deutschen Fürstenkongreß etwa nach Nancy zu berufen, um die Friedens- bedingungen festzustellen und die Verbindung des Norddeutschen Bundes mit den süddeutschen Staaten vorzubereiten; dafür bat er den Kronprinzen bei seinem Vater, dem König Johann, wirken zu wollen, was dieser bereitwillig zusagte. Mit der dann von Bayern verlangten Sonderstellung waren übrigens beide keineswegs einverstanden. Der Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 wohnte mit zahlreichen deutschen Fürsten auch Kronprinz Albert neben seinem Bruder, dem Prinzen Georg, bei.

Nach dem Abschluß des Präliminarfriedens von Versailles am 26. Februar ritt Albert mit den am i. März einziehenden Truppen in Paris ein, am 3. März nahm er Abschied von der .Maasarmee, am 7. März führte er dem Kaiser bei der Parade auf dem Schlachtfelde von Brie und Champigny das XII. Armeekorps vor, dann reiste er auf wenige Tage nach der Heimat. Aber schon am 18. März nahm er, diesmal in Begleitung seiner Gemahlin, als Oberbefehlshaber der deutschen Okkupationsarmee sein Hauptquartier in Compi^gne, während des Kommuneaufstandes wieder in Margency. Erst am 3. Juni, als der Aufstand unter Greueln und Verwüstungen aller Art nieder- gekämpft war, kehrte er nach Compi^gne zurück und legte hier am 8. Juni sein Kommando nieder, um nach Deutschland heimzukehren. Dort warteten seiner die höchsten Ehren. Unter den Führern der selbständigen Armeen nahm er an dem glänzenden Triumphzuge in der Reichshauptstadt am 16, Juni teil, am II. Juli hielt er als Generalfeldmarschall mit dem Großkreuz des Eisernen Kreuzes geschmückt, lorbeerumkränzt an der Spitze des XII. Armeekorps, dessen Kommando er wieder übernahm, seinen Siegeseinzug in Dresden.

Daneben aber hatte ihm Kaiser Wilhelm schon am 15. Juni die erste Armeeinspektion (über das I., V. und VI. Armeekorps) übertragen, die er seitdem regelmäßig ausübte. Mit dem Kaiserhofe gestalteten sich die Beziehungen immer enger und so war der Kronprinz im September 1872 auch bei der glänzenden Dreikaiserzusammenkunft in Berlin zugegen. Daheim wirkte er auch als Mitglied der Ersten Kammer an der Reformgesetzgebung dieser Jahre mit, und mehrmals vertrat er seinen greisen Vater während längerer Abwesenheit in den Regierungsgeschäften. Noch feierte der König und mit ihm das ganze Land in Beisein des Kaiserpaares am 10. November 1872 seine goldene Hochzeit, dann aber trat sein altes Herzleiden bald mit großer Hef- tigkeit auf und am Morgen des 29. Oktober 1873 verschied er im Kreise der Seinen im Schlosse von Pillnitz. Umstrahlt von dem Siegesglanze einer großen Zeit bestieg König Albert den Thron.

Eine Geschichte Alberts als König ist von der Geschichte Sachsens noch nicht zu trennen und eine solche Geschichte kann diese biographische Skizze nicht sein wollen , denn sein persönlicher Anteil läßt sich noch nicht feststellen. Teilweise liegt das allerdings auch daran, daß er es nicht liebte, persönlich stark hervorzutreten, so entschieden er auch seinen persön-

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liehen Willen, wenn es darauf ankan), zur Geltung zu bringen wußte. So lassen sich nur die allgemeinen Züge seiner Regierungsweise feststellen: ge- wissenhafteste Beobachtung der Landesverfassung, das vielseitigste Interesse, die Selbständigkeit des Urteils, die Pflichttreue, die Umsicht in der Wahl seiner Minister, unter denen Männer wie Richard von Friesen, Alfred von Fabrice, Hermann von Nostitz-Wallwitz, Ludwig von Abeken, L^once von Könneritz, Karl von Gerber, Paul von Seydewitz in der Geschichte seiner Regierung immer einen Ehrenplatz behaupten werden. So wurde diese Re- gierung eine Zeit wohltätiger Reformen auf allen Gebieten, eines rüstigen wirtschaftlichen wie geistigen Fortschritts im engsten Zusammenhange mit dem Reiche und im Rahmen seiner Verfassung und Gesetzgebung. Ein überzeugter und ehrlicher Anhänger der nationalen Neugestaltung, die ja seinen eigenen Jugendidealen entsprach, und die er an so hervorragender Stelle selbst hatte herbeiführen helfen, hat er an der Befestigung des Reichsgedankens in Sachsen den erheblichsten Anteil gehabt, war er eines der angesehensten und einfluß- reichsten Mitglieder jenes deutschen Fürstenrats, der zwar eine reichsver- fassungsmäßige Existenz nicht hat, aber im stillen sehr wirksam ist. Das beruhte vor allem auf seinem persönlichen Verhältnis zu drei Kaisern. Wie er oft als Gast des Kaiserhofs in Berlin verweilte, so begrüßte er Kaiser Wilhelm L zweimal, 1876 und 1882, als obersten Kriegsherrn und Oberfeld- herrn des Reichs in seinem Land, Kaiser Wilhelm IL 1888 und 1896, und bei jeder Feier des sächsischen Königshauses erschien Wilhelm II. in Dresden, so 1889 beim achthundertjährigen Jubiläum des Hauses Wettin, 1893 beim 50jährigen Militärjubiläum und 1898 beim fünfundzwanzigjährigen Regierungs- jubiläum König Alberts. Zweimal, 1879 und 1887, ^^^ diesem der Ober- befehl in einem damals drohenden Kriege gegen Rußland zugedacht, und als der unglückliche Kaiser Friedrich III. den Tod vor Augen sah, da legte er dem König Albert die Sorge um seinen jungen Nachfolger besonders ans Herz. Es war der erste Akt dieser Fürsorge, daß er die deutschen Fürsten veranlaßte, sich bei der Eröffnung des ersten Reichstages persönlich um den Kaiser zu scharen; das Ausland sollte sehen, »daß unser Zusammenhang nie- mals fester gewesen ist«. Mit dem Fürsten Bismarck war er seit 1866 per- sönlich bekannt, und er gewann immer größeres Vertrauen zu ihm und zu seiner Politik. Unmittelbar nach seinem Regierungsantritte bat er ihn auch, sich allezeit um Rat an ihn wenden zu dürfen. »Ich will Ihnen sagen«, be- merkte er später einmal zu einem Historiker seiner Bekanntschaft, »warum ich so für Bismarck bin. Er ist ein großer Staatsmann, denn er hat im vollsten Glücke Maß gehalten.« Nichtsdestoweniger verkannte er die tragische Not- wendigkeit, die im März 1890 den Rücktritt des Reichskanzlers herbeiführte, keineswegs. »Ich habe mich überzeugt«, sagte er unmittelbar nachher zu einem Mitgliede der ersten Kammer, »der Kaiser konnte nicht anders, wenn er die Zügel in der Hand behalten wollte.« Das hielt ihn indes nicht ab, den Fürsten, als er im Juni 1892 durch Dresden kam, in einem Handschreiben zu begrüßen und ihm für den Segen zu danken, der durch des Kanzlers Wirken auch in sein Leben gekommen sei. Für alle Reichsangelegenheiten hegte er das lebhafteste Interesse. Er verfolgte deshalb auch mit wacher Sorge den Ausbau des deutschen Heeres, zu dem Sachsen seit 1899 noch ein zweites Armeekorps, das XIX., stellte und die Neubegründung der deutschen

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Flotte, denn die Notwendigkeit der neu aufsteigenden Kolonial- und Welt- politik gerade für das hochindustrielle Sachsen war ihm vollkommen klar. Noch im August 1900, als auch von den beiden sächsischen Armeekorps Freiwillige nach China aufbrachen, ließ er es sich nicht nehmen, sie persön- lich zu verabschieden, obwohl er damals schon leidend war, und ermahnte sie, auch im fernsten Osten dem sächsischen Namen Ehre zu machen und tapfer für die Ehre Deutschlands einzutreten. Ein König von Sachsen, der seine Landeskinder unter dem Reichsbanner zum Kriege nach China entläßt und das Dresdener Zeughaus mit chinesischen Trophäen schmückt: augen- scheinlicher konnte die ungeheure Wandlung in den Geschicken Sachsens und Deutschlands nicht hervortreten! Bei dieser seiner Stellung zu den Dingen war es nur natürlich, daß er die höchste Popularität genoß, nicht nur in Sachsen, sondern im ganzen Reiche. Alle die Erinnerungsfeste, die er persönlich in diesen Jahren beging, wurden deshalb auch Feste des sächsischen Volkes: seine silberne Hochzeit 1878, sein Militärjubiläum 1893, sein 25- jähriges Regierungsjubiläum und sein 70. Geburtstag 1898. Nach mensch- lichem Maßstabe gemessen war er der glücklichste Fürst des Wettinschen Stammes.

Aber das alles war doch auch eine Wirkung seines Charakters, seiner Persönlichkeit. Vor allem das sächsische Volk erkannte in ihm eine Ver- körperung aller seiner eigentümlichen Vorzüge ohne einige seiner Schwächen.

Klare Verständigkeit, anspruchslose Schlichtheit, warmes und tiefes Gefühl, diese drei Züge vereinigten sich in König Albert zu einem harmonischen Ganzen. Mit dem den meisten Wettinem eigenen ausgezeichneten Gedächtnis, das die Erlebnisse eines bewegten und reichen Daseins treulich bewahrte, verband er einen kaum je trügenden Scharfblick und ein unbestechliches Ur- teil über Menschen und Dinge. Er war sozusagen überall orientiert, und hatte daher über die verschiedensten Dinge eine selbständige, wohlbegründete Meinung. Das trat besonders dann hervor, wenn er sein Land bereiste und dabei Personen aller möglichen Lebensstellungen ins Gespräch zog. Dann hatte jeder, der Beamte, der Fabrikant, der Kaufmann, der Landwirt, der Gelehrte, der Schulmann, der Künstler das Gefühl, mit einem Wissenden zu reden. Wie er dieses sichere Urteil vor allem als Feldherr bewährt hat, so trat es auch in militärischen Einzelheiten immer wieder hervor. Aber auch in wissenschaftlichen Fragen wußte er überraschend gut Bescheid, wie das die Professoren der Universität Leipzig, die er als ihr Rector magnificentissimus (seit 1875) alljährlich besuchte, oft genug erfuhren, und selbst in pädagogischen Dingen hatte er ein sicheres Urteil. »Gott erhalte uns die humanistische Bildung«, sagte er bei der Einweihung des neuen Prachtbaues der Fürsten- schule Grimma im September 1891, »ich werde für sie kämpfen bis an mein Ende« und er hat dieses Wort wahrgemacht. Er verwandte große Summen auf seine Privatbibliothek und las sehr viel, namentlich historische und bio- graphische Werke, deren Auswahl beim Ankauf er selbst bestimmte, oft mit charakteristischen Bemerkungen über das Buch oder den Verfasser. Dabei ging er überall auf den Kern der Dinge, auf die Tatsachen und die Menschen. Von historischen Theorien und Konstruktionen hielt er in seinem klaren Wirklichkeitssinne gar nichts, und als ein Mann, der von der neuesten Geschichte durch persönliche Erfahrung natürlich mehr und intimeres wußte, als gewöhn-

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lieh ein Historiker wissen kann, bemerkte er zu einem solchen einmal trocken, über diese neueste Geschichte könne man wohl Vorlesungen halten, aber nicht schreiben; so unsicher mochten ihm Kenntnis und Urteil noch erscheinen. Er hatte auch eine vorzügliche musikalische Bildung und spielte vortrefflich Klavier, versäumte in Leipzig auch nie den Besuch des Gewandhauskonzerts, und obwohl er der modernen Kunstrichtung schwerlich hold war, so vermied er doch jede Beeinflussung und ließ frei gewähren, was sich um ihn regte.

Seiner Würde war er sich durchaus bewußt und er verstand ebenso glänzend wie vornehm zu repräsentieren, aber in seiner schlichten Weise war er fem davon, sie besonders zu betonen. Wer mit ihm sprach und dabei das freundliche, schöne blaue Auge auf sich gerichtet sah, der tat zuweilen gut, sich daran zu erinnern, daß er den König vor sich habe, so ungezwungen und natürlich war der Ton. Er hatte gar nicht das Bedürfnis, sich öffentlich auszusprechen, aber das Notwendige und Passende wußte er in solchen Fällen mit seiner tiefen Stimme gut, klar und kurz zu sagen; auch von anderen waren ihm lange Reden unangenehm.

Für sich lebte er schlicht und prunklos, am liebsten in seiner einfachen Villa in Strehlen bei Dresden, die er schon als Kronprinz erworben hatte, oder in dem einsamen kleinen Jagdhause Rehefeld hoch oben im Erzgebirge, einem Geschenke seiner Gemahlin. Für Pillnitz hat er wohl keine besondere Vorliebe gehabt, aber sehr gern verweilte er im Mai in dem schönen schle- sischen Sibyllenort bei Breslau, das ihm Herzog Wilhelm von Braunschweig 1884 vermacht hatte. Im Dresdener Residenzschlosse brachte er immer nur wenige Wintermonate während der Hoffestlichkeiten zu. Oft genug konnte man ihm im Großen Garten begegnen, wenn er zuweilen ganz allein, die ge- liebte Virginia rauchend und einen großen Hund vorschriftsmäßig an kurzer Leine führend, durch die schönen Baumgänge wandelte, und in Rehefeld hätte in dem mittelgroßen einfachen Herrn, der in grauem Filzhut und leichter Jagdjoppe mit seinen Hunden durch Matten und Wälder spazieren ging, nie- mand den König erkannt. Er war ein passionierter Jäger und fühlte sich vielleicht am allerwohlsten, wenn er nach glücklicher Jagd eine wenig ertragreiche pflegte ihn zu verstimmen inmitten seiner Weidgesellen saß, sich erzählen ließ und selbst Geschichten erzählte, übrigens sehr gut erzählte und oft von Herzen lachte. Denn er hatte eine starke humoristische Ader und unbefangene Freude am Komischen. Diese Schlichtheit der Empfindung zeigte sich auch darin, daß er sich der verfassungsmäßigen und natürlichen Grenzen seiner Macht immer bewußt blieb. Bei der Durchführung der neuen Gerichtsverfassung 1879 bemühte sich der von ihm sehr geschätzte Bürger- meister einer ansehnlichen Mittelstadt, das ihr versagte Landgericht noch durch eine persönliche Verwendung beim Könige zu erlangen und sprach ihm davon bei einer Hoffestlichkeit. Der König hörte ihm, die Hände auf dem Rücken, wie er gern tat, ruhig zu, dann drehte er sich rasch auf dem Absätze herum und sagte lächelnd: »Mein lieber Bürgermeister, Sie halten mich für viel mächtiger, als ich bin.« Der Schmeichelei war diese schlichte Natur ganz unzugänglich.

Damit verband sich eine tiefe Herzensgüte, eine warme Empfindung. Das Andenken an den Vater war ihm heilig; er hat sich lange nicht ent- schließen können, ein Todesurteil zu bestätigen, weil König Johann ein Gegner

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der Todesstrafe gewesen war und das revidierte sächsische Strafgesetzbuch von 1868 nach seinem Sinne sie abgeschafft hatte, während das deutsche Strafgesetzbuch von 1870, das jenes aufhob, sie festhielt. Sein Gnadenrecht übte König Albert in der umfassendsten, gewissenhaftesten und humansten Weise; er ließ sich von einem Beamten des Justizministeriums über jeden Fall in gedrängter Darstellung berichten und gab dann seine Entscheidung in kurzen Bemerkungen, wenn irgend möglich zugunsten des Gesuches. Es ist das schönste Zeugnis für seine Herzensgüte, daß das Letzte, womit er sich noch auf dem Sterbebette beschäftigt hat, Gnadengesuche gewesen sind. Wie stark dieser Charakterzug in ihm gewesen war, das empfand vor allem seine Umgebung, niemand mehr als die hohe Frau, die ihm das noch in der schlichten Widmungsschrift ihres letzten Kranzes bezeugt hat: »Dem einzig geliebten Manne«. Dasselbe herzliche Wohlwollen bewährte er auch bei Unglücksfällen. Als im Sommer 1880 ein furchtbarer Wolkenbruch die süd- liche Oberlausitz verwüstete, da schickte er auf die ersten Telegramme noch am Abend eine Abteilung Pioniere vom Übungsplatze weg zu Hilfe und war schon am nächsten Morgen selbst zur Stelle, anordnend, helfend und tröstend, stundenlang die verheerten Ortschaften auf zerrissenen, oft kaum gangbaren Wegen mühsam durchwandernd. Wohlwollend und leutselig half er bei Audienzen schüchternen, befangenen Leuten über die Verlegenheit hinweg. Als ihm einmal ein alter Herr aus einem erzgebirgischen Bergstädtchen in wohlgesetzter Rede seinen Dank für den Albrechtsorden aussprechen wollte und nach dem ersten Satze rettungslos stecken blieb, da klopfte ihm der König freundlich auf die Schulter und sagte: »Im übrigen gehts Ihnen aber gut? Wie stehts denn bei Ihnen oben mit der Nickelausbeute?«, so daß er den unbeholfenen Mann sofort ins richtige Fahrwasser brachte. Daß aller Güte und aller gesetzlichen Fürsorge zum Trotze die Sozialdemokratie in seinem Lande zu solcher Macht emporstieg, ist ihm immer der Gegenstand persönlichen Schmerzes gewesen. Als er einmal in Chemnitz, offenbar gegen seine Erwartung auch in den Arbeitervierteln warm begrüßt wurde, bemerkte er zu einem seiner Begleiter wie erleichtert: »Ich glaube, die Leute haben im Grunde gar nichts gegen mich.«

Nein, gegen ihn persönlich hatte niemand etwas. Auch die konfessionelle Differenz, die ihn und sein Haus von der großen Mehrheit seiner Untertanen trennte, hat das Verhältnis zu ihm nicht gestört. Er hat es sich immer gegen- wärtig gehalten, daß er ein protestantisches Land regierte. Proselytenmacherei und hierarchische Überhebung hat er nie gelitten, und die Erlaubnis, in den Priesterstand einzutreten, hat er seinem Neffen, dem Prinzen Max, nur mit dem äußersten Widerstreben gegeben. Hatte er, dem eigene Kinder versagt blieben, doch auch darauf gehalten, daß die Söhne seines Bruders, des Prinzen Georg, vor allem der mutmaßliche Thronfolger Friedrich August, in den Hauptfächern protestantische Lehrer erhielten, wie er selbst gehabt hatte. Auf das Regiment der evangelisch-lutherischen Landeskirche, von dem ihn die Verfassung ausschloß, hat er niemals Einfluß zu gewinnen versucht, aber für ihre Angelegenheiten hat er stets eine warme Teilnahme gehabt. Er ver- kehrte gern mit protestantischen Theologen und hörte in Leipzig ihre Vor- lesungen so gut wie die anderer Professoren. Bei festlichen Gelegenheiten nahm er unbefangen an einem protestantischen Gottesdienste teil, und evan-

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gelische Kirchen hat er im künstlerischen Interesse oft besucht. Als er kurz nach ihrer Einweihung die Martin Luther-Kirche in Dresden -Neustadt be- sichtigte, wollte ihn der Pfarrer ohne weitere Bemerkung an dem Medaillon- bildnis des Reformators auf dem Altarplatz vorüberführen; der König aber blieb stehen, betrachtete es aufmerksam und sagte: »Das ist ja ein wohl- getroffenes Bild des Doktor Martinus«. Trat einmal der Gegensatz ungewollt hervor, was doch nicht immer zu vermeiden war, so empfand er das sehr peinlich. Am Tage nach der großartigen Lutherfeier im November 1883 sagte er zu einem seiner Minister bekümmert: »Ich konnte gestern nicht mit meinem Volke beten, da bin ich auf die Jagd gegangen«. Manche scharfen Äußerungen der Presse über den Entschluß des Prinzen Max verletzten ihn tief. Kurz nach- her richtete er an einen hervorragenden evangelischen Geistlichen die zweifelnde Frage: »Habt Ihr denn noch ein bischen Vertrauen zu mir?« Tief ergriffen ver- sicherte dieser, das stehe unerschüttert fest, und er durfte es sagen. Um so tiefer und dankbarer empfand es der König, daß ihm auch die protestantische Geistlich- keit bei seinem Regierungsjubiläum 1898 ihre herzlichen Glückwünsche dar- brachte; sie habe ihn, bemerkte er, durch ihre Anhänglichkeit und Liebe geradezu verwöhnt. Der peinlichen Frage, ob evangelische Offiziere, Soldaten und Pagen an katholischen Kirchenfesten des Hofes teilnehmen sollten, machte er im Widerspruch mit einem Teile seiner Umgebung kurz entschlossen und taktvoll durch die einfache Verfügung vom 7. Juni 1900 ein Ende, daß dazu nur K^atholiken herangezogen werden dürften. So ist nicht zum wenigsten durch ihn Sachsen für das friedliche Nebeneinanderleben der Konfessionen, das unserem nach dem Willen der Vorsehung kirchlich nun einmal gespaltenen deutschen Volke unentbehrlich ist, ein Vorbild geworden.

Als Jäger und Soldat erfreute sich König Albert einer festen Gesundheit und auf Jagden oder bei Manövern achtete er Wind und Wetter wenig. Aber allmählich bildete sich ein örtliches Leiden aus, das ihm oft große Pein bereitete und der Kunst seiner Ärzte nicht weichen wollte, auch einen ope- rativen Eingriff nicht zuließ. Während seines Frühjahrsaufenthalts in Sibyllen- ort 1900 kam der erste schwere Anfall, der die ganze Größe der Gefahr offenbarte. Noch überwand ihn seine kräftige Natur, er fuhr zuweilen auf sorgfältig vorbereiteten Wegen noch zur Jagd, besuchte im September desselben Jahres die Fürstenschule Grimma bei ihrem 350jährigen Jubiläum und im Februar 1902 zum letztenmal die Universität Leipzig. Aber das Stehen wurde ihm schon so schwer, daß er die gewohnten Empfänge einschränken mußte und an den Hoffestlichkeiten wenig mehr teilnehmen konnte. Zu Pferde vermochte er gar nicht mehr zu steigen, er mußte also auf Manöver und Paraden verzichten. Mit wachsender Besorgnis bemerkten alle, die sich ihm näherten, daß sein Gang schleppend, sein Auge matt, seine sonst blühende Gesichts- farbe fahl wurde; geistig blieb er rege wie immer, nur daß sich auch hier zuweilen eine gewisse Ermüdung einstellte. Die Besorgnis teilte sich dem ganzen Lande mit, sein 74. Geburtstag wurde deshalb überall mit noch größerer Wärme gefeiert als sonst, denn alles ahnte, daß es der letzte sei. In Sibyllen- ort, wohin er sich im Mai 1902 nach seiner Gewohnheit begab, hoffte er sich zu erholen. Aber in der Nacht des 5. Juni überkam ihn ein so heftiger Anfall des Leidens, daß er sich die Sterbesakramente reichen ließ. Noch ging die Gefahr vorüber, doch seitdem nahmen die Kräfte rasch ab und er konnte

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das Lager kaum mehr verlassen. Aber er erledigte noch wichtige Regierungs- geschäfte, mit besonderer Teilnahme Gnadengesuche, und am i8. Juni, seinem 49. Hochzeitstage, überreichte er seiner Gemahlin, die seine treueste Pflegerin war, schweigend eine Rose. Es war seine letzte Gabe. Das Bewußtsein be- gann zu schwinden, und am Abend des 19. Juni kurz nach 8 Uhr, während Sturm und Regen um sein heiteres Sommerschloß tobten, verschied er sanft ohne Kampf, im Beisein der gesamten königlichen Familie.

In zahllosen Kundgebungen äußerte sich nun weit und breit die Liebe und Verehrung, die er genossen hatte. Von schlesischen Kürassieren eskortiert, wurde die Leiche zum Bahnhof gebracht, am Abend des 21. Juni langte der Königliche Trauerzug, überall unterwegs mit Glockenläuten begrüßt, in Dresden an. In der Schloßkirche wurde die Leiche aufgebahrt und Tausende drängten sich zwei Tage lang, um einen letzten Blick auf die geliebten Züge des Toten zu werfen, der in düsterer Pracht, von brennenden Girandolen und zahllosen kostbaren wie schlichten Kränzen umgeben, bewacht von seinen Getreuen, wie schlafend im Sarge lag. Im Beisein einer glänzenden Fürstenversamm- lung, an deren Spitze Kaiser Wilhelm IL und Kaiser Franz Joseph standen, wurde er am Abend des 23. Juni in der Gruft der Schloßkirche feierlich bei- gesetzt, während draußen Glockengeläute, Kanonendonner und Gewehrsalven dem scheidenden König und Feldherrn das Geleite gaben zur letzten Ruhe- stätte.

Eine wissenschaftliche Darstellung des Gesamtlebens König Alberts ist heute noch nicht möglich. ' Nur für die Zeit bis zur Thionbesteigung (1828 1873) gibt eine solche Paul Hassel, Aus dem Leben des König Alberts von Sachsen, 2 Bände, Berlin und Leipzig 1898, X900 (mit zwei Bildnissen), dessen Manuskript der König selbst vollständig durchge- lesen hat, ohne etwas daran zu ändern. Über seine Tätigkeit in den Feldzügen bieten die Werke des sächsischen Generalstabes von 1866 und des Großen Generalstabes von 1 870/1 das zuverlässigste Material. Aus persönlicher Erinnerung schöpft Max Bauer, Von der Maasarmee, Halle 1871. Kurze populäre Darstellungen geben u. a. Max Dittrich, König Albert und seine Sachsen im Felde (mit 8 Bildern), 3. Auflage, Berlin 1898, und Oskar Hau ß 1er, König Albert von Sachsen und die sächsische Armee, Leipzig, 2. Auflage 1886. Eine kurze biographische Skizze habe ich selbst versucht: Zu König Alberts Gedächtnis. Ein Abriß seines Lebens (mit einem Porträt). Dresden 1902; ihr ist die obige Charakte- ristik mit einigen Veränderungen entnommen. Von den zahllosen Gedächtnisreden hebe ich die von Georg Rietschel hervor: Gedächtnisrede bei dem akademischen Trauergottesdienst der Universität Leipzig am 29. Juni 1902. Manches habe ich auch aus persönlicher Er- innerung geschöpft. Ein Schatz von Feldzugsbriefen des Kronprinzen an seinen Vater aus den Jahren x866 und 1870/1 harrt noch der Erschließung. Unter seinen Bildnissen ist sicher- lich das bedeutendste das Porträt von Franz von Lenbach im Leipziger Museum, das ihn ganz als Feldherm faßt und deshalb die Milde in seinen Zügen nicht zum Ausdruck bringt.

Otto Kaemmel.

Lord Acton, John Emerich Dalberg, Englischer Pair, Regius Professor für Geschichte an der Universität zu Cambridge, * 10. Januar 1834 zu Neapel, f 19. Juni 1902 in Tegernsee bei München. Zwischen diesen beiden Daten verlief ein arbeitsames, unaufliörlicher geistiger Tätigkeit geweihtes Dasein, in seiner Art wohl eines der merkwürdigsten von allen, die im XIX. Jahr- hundert Anspruch besitzen auf ein bleibendes Andenken in der Erinnerung der Menschen.

Lord Acton.

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Die Frage, welches Recht diesem Engländer zukommt, in einem deutschen Nekrolog seine Stelle einzunehmen, muß zunächst beantwortet werden. Durch Abkunft und Geburt, als der Sohn einer deutschen Mutter aus dem altbe- rühmten Geschlecht, dessen ältester Zweig mit dieser Tochter des Herzogs Dalberg auf Schloß Herrnsheim bei Worms erlosch, ging der Name Dalberg auf ihren einzigen Erben über, dessen Vater, ein englischer ßaronet, der Sohn des neapolitanischen Ministers Acton, früh starb. Die Mutter heiratete in zweiter Ehe Lord Granville, den nachherigen Minister des Äußern in den liberalen Ministerien, die vornehmlich unter Gladstones vorwaltendem Ein- fluß in England sich folgten. Dort, bis 1848 in der Schule zu Oscott, die von Benediktinern geleitet ist, dann in Schottland, bei einem gelehrten Kon- vertiten aus Cambridge, Dr. Logan, wurde der junge katholische Baronet in der Absicht herangebildet, seinen Studiengang auf einer englischen Hoch- schule zu vollenden. Der für die Wissenschaften begeisterte Jüngling und seine Mutter hatten ohne die Vorurteile anglikanischer Intoleranz gerechnet: Cambridge verschloß dem römischen Katholiken seine Pforten und führte dadurch die entscheidende Wendung in seinem Leben herbei. Zu München, wo die mit Lady Granville verwandte Familie des Grafen zu Arco-Valley in innigem Verkehr mit Professor Döllinger stand, wurde dieser bald bewogen, Acton in seinem Hause aufzunehmen. Der Aufenthalt, der mit dem Besuch der Universität verbunden war, währte von 1851 bis 1856 und ein unvergleich- licher Lehrer gewann seinen größten Schüler. Nur ein Mann von Döllingers Universalität des Geistes konnte den Wissensdurst eines Jünglings stillen, der die klassischen und fünf moderne Sprachen beherrschte und bereits in diesen Jahren des Werdens den Grund zur Bücherkenntnis legte, die mit den Methoden strenger Forschung ausgerüstet, ohne Übertreibung auf die Durch- arbeitung eines Foliobandes im Tag geschätzt worden ist. Unter den vielen tausend Bänden, die Sir John Acton damals schon zu einer berühmt ge- wordenen Bibliothek zu vereinigen begann, ist kaum einer, der nicht die Blei- stiftzeichen seiner Lektüre aufwiese und dessen wichtigster Inhalt, sei es an Ideen oder an Tatsachen, nicht von ihm in systematisch geführten Notizen festgelegt worden wäre. Das Schicksal fügte es, daß diesem gelehrten Forscher- leben alle Möglichkeiten zur Kenntnis von Welt und Menschen in ver- schwenderischer Fülle geboten und von ihm ausgenutzt werden konnten. Mit Lord Granville wohnte der junge Acton 1856 der Kaiserkrönung in Moskau bei. Er bereiste Amerika, dessen Institutionen und Geschichte sein Interesse für immer fesselten ; er verkehrte in Frankreich und Italien, welch letzteres er wie eine zweite Heimat kannte, mit allen leitenden Persönlichkeiten der Wissenschaft, der Literatur und der Politik ; er besuchte in Berlin, in Heidel- berg und sonst auf deutschen Hochschulen die Berühmtheiten deutscher Geistes- arbeit und deutscher Wissenschaft. Ranke, Droysen, Richard Rothe, Waitz, Radowitz wir wählen nur einige der größten Namen , hat er ebenso wie später Mommsen und Harnack, wie früher, in München, M. Deutinger, Haneberg, Lasaulx persönlich gekannt und viele von ihnen geliebt und ver- ehrt. In England blickte er, im Hause seines Stiefvaters, in das Getriebe der Parteien and in das Räderwerk der Staatsmaschine. Einen seiner Lieblings- aussprüche, savair le pourquoi du pourquo't, entlehnte er früh der Kurfürstin Sophie von Hannover. Als Weltmann wie als Gelehrter blieb sein Augen-

Bio2^r. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog-. 7. Bd. 2

lg Lord Acton.

merk auf das Spiel hinter den Kulissen, auf die geheimen Triebfedern, die Motive und komplizierten Endursachen gerichtet, von denen die Geschehnisse so oft nur unvollkommene Erklärungen geben. Unter dem Einfluß des größten Kirchenhistorikers der Zeit kehrte Sir John Acton mit einem bestimmten Arbeitsprogramm nach England, zunächst nach seinem Stammsitz Aldenham in Shropshire zurück. Mit Ausnahme Lingards besaßen seine englischen ka- tholischen Glaubensgenossen keine Historiker von allgemeiner Bedeutung und, seit Jahrhunderten, war das intellektuelle Leben derselben bis zum Übertritt des größten Konvertiten des XIX. Jahrhunderts, John Henry Newman, im kleinen Häuflein der Anhänger des alten Glaubens ins Stocken geraten. A. war und blieb sein ganzes Leben hindurch ein begeisterter und über- zeugter katholischer Christ. Seine Äußerung einem Freunde gegenüber, nie habe er in seiner religiösen Überzeugung die Versuchungen des Zweifels ge- kannt, konnte nur solche erstaunen, die seiner inneren Entwicklung und dem Grund, auf dem sie stand, fremd blieben. Zugleich erfüllte ihn das Bewußt- sein, daß die Erneuerung des geistigen Lebens, vor allem der historischen Studien, fortan eine Lebensfrage für den Katholizismus sei. Mit dem voll- ständigen Rüstzeug deutscher Schulung versehen, sammelte Acton von 1859 an die in England vorhandenen Kräfte, und stellte ihnen, als Herausgeber oder hervorragendster Mitarbeiter, eine Reihe von Zeitschriften gelehrten In- halts zur Verfügung. Zunächst, von 1859 bis 1861, den ^i^ Rambler*, dann, bis 1864, die *Hame and Foreign Review*,

Diese Jahre bezeichneten den Höhepunkt der von Italien und Frankreich ausgehenden katholischen Reaktion. L. Veuillot in Paris im ^Univers*^ die y>Civiitä cattolica<^ der Jesuiten in Rom, stellten dem Pontifikat Pius' IX. die extremen Theorien zur Verfügung, die auf historischem Gebiet in heute vergessenen und stets wertlosen aber typischen Erzeugnissen zur Fälschung der Geschichte führten. A. griff ein. Für ihn war es selbstverständlich, daß es keine katholische Wissenschaft, sondern nur die Wissenschaft, keine andere Moralität als die Lehre des Evangeliums, die absolute, reinliche Scheidung zwischen Recht und Unrecht gebe. Im Lauf seiner Forschungen reifte bei ihm die Überzeugung, daß die Verquickung der geistlichen mit den weltlichen Interessen, die Zugeständnisse und die Mitschuld an der Theorie der Verfolgung um der religiösen Überzeugung willen, das schleichende Gift im Erbe der Vergangenheit sei, von welchem sich loszusagen die nächste und gebietende Pflicht der Katholiken ist. Er schrieb zunächst Beiträge über die Waldensischen Fälschungen, über die Bartholomäusnacht, über Heinrichs VIII. Ehescheidung, über Döllingers »Papstfabeln«, über den Ultramontanismus, lauter Beiträge in der T»Hame and Foreign Rezneiv^i, die der herrschenden Richtung, dem Ultramontanismus, im Augenblick den Fehdehandschuh hin- warfen, wo der Primas der katholischen Kirche in England, Kardinal Wiseman, unter den Einfluß eines fanatischen Konvertiten, seines späteren Nachfolgers Manning, geriet. Nach dem Münchener katholischen Gelehrtenkongreß 1863, dem A. beiwohnte und über den er einen denkwürdigen Bericht erstattete {»Hbtne and Foreign Review<i^, Januar 1864), erfolgte die Antwort Roms an die Vertreter des wissenschaftlichen Katholizismus durch Veröffentlichung des Syllabus. A. und seine Mitarbeiter fanden es angezeigt, freiwillig auf die Fortführung ihrer Zeitschrift mit der Erklärung zu verzichten, daß sie den im

Lord Acton. ig

päpstlichen Dokument ausgesprochenen Meinungsäußerungen beizupflichten nicht imstande sein.

Statt wie so viele seiner Glaubensgenossen die Tragweite der päpstlichen Worte abzuschwächen, fand A. es würdiger, die rechtmäßige Autorität nicht durch unzeitigen Widerstand zur bestimmten Verurteilung von Doktrinen herauszufordern, deren Weiterentwicklung er im Namen der rechtmäßigen Freiheit des Gedankens und Gewissens für den Fortschritt der W^issenschaft im Dienste der Religion forderte. Mit dieser denkwürdigen Erklärung: »Can- flicts with Rome<f^ (April 1864), schloß er die ^Home and Foreign Review<^ und mit dieser Zeitschrift den Versuch, unter konfessioneller Fahne zu kämpfen. Im ^Chronicle^ 1867 68, dann in der ^North British Reinew<i^ 1869 1871 behandelte er neben wissenschaftlichen Fragen vor allem die italienischen Angelegenheiten und das akute Problem der weltlichen Macht des Papsttums. Als das Konzil eröffnet wurde, überließ er es den Theologen, mit der herrschen- den kirchlichen Richtung, die das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit wollte, sich auseinanderzusetzen. Er ging nach Rom, um den Lauf der Ereignisse zu beobachten und sandte nach London und München Berichte, die, unter dem Namen »Quirinusbriefe« veröffentlicht, eine der wichtigsten und ver- läßigsten Quellen zur Geschichte der Vorgänge 1869 1870 geblieben sind. Unmittelbar nach Proklamierung des Dogmas, im August 1870, erschien A.s »Sendschreiben an einen deutschen Bischof«, in welchem er die Minorität des Episkopates aufforderte, der durch ihre Haltung und ihre Proteste ins Dasein gerufenen Opposition zur Aufrechterhaltung der alten kirchlichen Ord- nung die gesetzlichen Führer und die künftige Richtung zu geben.

Nichts von dem geschah und A. schwieg bis 1874. Dann, im November des Jahres, erschien Gladstones Angriff auf die vatikanischen Dekrete, durch die nach seiner Ansicht die politische Stellung der Katholiken verändert und ihre Loyalität als englische Staatsbürger nicht mehr gesichert erscheine, nachdem die Emanzipation ihnen nur auf die feierliche Erklärung bewilligt worden sei, daß die päpstliche Unfehlbarkeit nicht zum Lehrbegriff ihrer Kirche gehöre.

Gegen diesen Angriff richtete A. seine berühmten Briefe an die »Times<(i (8., 13., 21. November, 12. Dezember 1874). Über die Tageskontroversen weit hinausreichend, gingen sie über auf die sich bekämpfenden Auffassungen der Religion überhaupt und gipfeln in den Sätzen: Die Doktrinen, gegen welche u. a. auch Gladstone sich auflehnt, begannen nicht mit dem Vatikanum. Als der Testeid abgeschafft wurde, besaß der Papst die gleiche Macht und das- selbe Recht wie heute, Fürsten abzusetzen, die seine Autorität verwarfen. Die von Rom am meisten geschätzten Schriftsteller verkündeten die Doktrin als eine Glaubenslehre; ein moderner Papst hat erklärt, sie könne nicht ohne Makel der Häresie abgelehnt werden und er hat diejenigen, die seine Autorität in zeitlichen Dingen in Frage stellten, schlimmer genannt als solche, die sie in geistlichen Dingen verwarfen. Dafür sind Menschen mit dem Tode be- straft worden, ganz ebenso wie andere für Gotteslästerungen und Atheismus. Die jüngsten Dekrete haben diese Strafverfahren weder verschärft noch leichter anwendbar gemacht. Für ein System, das nie in seiner Vollständigkeit zu ihrer Kenntnis gekommen ist, für theologische Meinungen, deren Vorhanden- sein ihnen kaum glaubwürdig erscheinen würde, können die Katholiken in

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ihrer Gesamtheit nicht verantwortlich gemacht werden. Nicht nur die Un- gunst der Zeiten, sondern die Natur der Dinge hat den Katholizismus vor den Konsequenzen solcher Theorien bewahrt. A.s Auseinandersetzung geht zu historischen Tatsachen aus der Geschichte der Jahrhunderte über, um den Beweis zu erbringen, daß nicht etwa Abtrünnige oder Feinde, sondern ka- tholische Völker und Fürsten, Irländer, Spanier, Philipp II. und Jakob II. mit den päpstlichen Trägern des Systems in Konflikt gerieten: »Keine Gegen- seitigkeit des Vertrauens«, schreibt A., »ist möglich zwischen einem Mann, der, mit der überwältigenden Mehrheit katholischer Schriftsteller, die Grund- sätze der Moralität anerkennt, und einem Mann, der auf die Kunde, Pius V. habe Königin Elisabeth zu ermorden befohlen, sich der Aufgabe unterzieht, den Dekalog neu zu interpretieren. Ich beschwöre meine Glaubensgenossen, mit welchen die Gemeinschaft mir teurer ist als das Leben, sich ernstlich die Frage zu stellen, ob etwa die Gesetze der Inquisition nicht ein Ärgernis und ein Schmerz für ihre Seelen sind?«

A. war vierzigjährig, als er diese Botschaft in die Welt sandte. Eine glänzende Zukunft schien ihm gesichert. Durch persönliche Bedeutung noch mehr als durch Abkunft und Stellung konnte er eine führende Rolle im öffentlichen Leben beanspruchen. Bereits 1859 vertrat er den irischen Wahl- kreis Carlow im Parlament und schloß sich, wie alle Katholiken Englands und Irlands, der liberalen Partei an. Nachdem er 1865 einen englischen Wahlsitz verloren hatte, verlieh ihm Gladstone 1869 die Pairs würde, unter dem Titel eines Baron Acton. Aber er war kein Redner und den Partei- programmen unterwarf er sich nicht. Niemand, äußerte er, stimmt mir bei und ich vermag den andern nicht beizustimmen. Ebensowenig lockte ihn der Ehrgeiz. Im Jahr 1873 stand ihm der Berliner Botschafterposten offen. Er schlug ihn aus. Allen weltlichen Ehren zog er das ernste Gelehrtendasein im Familienleben vor, das er durch die Ehe mit Gräfin Marie zu Arco-Valley seit 1865 begründet hatte. Man erwartete von ihm ein großes Werk, eine Geschichte der Freiheit, dessen Grundzüge die meisterhaften Vorträge, die er 1877 in der kleinen Provinzstadt Bridgnorth hielt, entworfen hatten. In England, in Südfrankreich, während Aufenthalte zu Cannes und in Bayern, zu Tegernsee, wo er einen Teil jedes Sommers zuzubringen pflegte, wußte man ihn damit beschäftigt. Mit den Besten seiner Zeit blieb er fortdauernd im Verkehr. Einzelarbeiten von ihm, wie der Essay über »Deutsche Geschichts- schulen« (1886), ein anderer über »Döllingers historisches Werk«, 1890 und in dessen Todesjahr geschrieben, die Beiträge zur ^English Historical Review^i^, die er 1886 ins Leben rief und mit kontinentaler Geschichtswissenschaft in enger Fühlung erhielt, zeigten, was er konnte. Ungezählte Entwürfe von Büchern und Arbeiten anderer, die ihm zur Durchsicht unterbreitet wurden, gingen verändert aus seiner Hand hervor. Mit nie versagendem Interesse, mit einer geradezu unerschöpflichen Kenntnis selbst des kleinsten Details aller einschlägigen Literaturen in Büchern und Archiven, gebot er über eine Sachkenntnis, die bei den Empfangenden den Eindruck hinterließ, der Stoff, den sie gewählt hatten, sei der Gegenstand seiner eigenen Forschung. Die- selbe Bereitwilligkeit, aus dem Schatz seines Wissens zu geben, trat im Um- gang mit ihm zu Tage. Obwohl im allgemeinen schweigsam, konnte er der anregendste Gesellschafter sein, und die feine Ironie, der Ideenreichtum seines

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Gesprächs und die charakteristische Eigenschaft, daß er für alles Zeit und Interesse fand, machten die mit ihm verbrachten Stunden seinen Freunden unvergeßlich. Das Werk aber, das sie von ihm erwarteten, erschien nicht. Es soll nicht verschwiegen werden, daß seine ungeheure, rezeptive Fähigkeit mit zunehmenden Jahren seine Schaffenskraft lähmte, daß die Fülle des Ma- terials ihm die Gestaltung zu einem einheitlichen Werk erschwerte und daß das Auftauchen immer neuer Probleme ihn dazu verlockte, lieber einsam weiter zu forschen, als einzelnes zu verarbeiten. Andere Gründe kamen hinzu. Die Literatur als solche, t art pour T art, schätzte und kannte er, ohne sich ihr hin- zugeben. Seine Welt war die des Gedankens und vor seiner Seele stand ein Ideal des abstrakten Guten, das er ohne Rücksicht auf praktische Ergebnisse hochhielt. Die kürzlich, 1904, von ihm veröffentlichten »Briefe an Mary, Tochter des W. E. Gladstone«, lassen keinen Zweifel darüber. Seit 1870 hatte er sich dem großen Staatsmann der liberalen Partei angeschlossen. Er glaubte an ihn, er trieb ihn voran, und Gladstones radikale Politik hatte seine volle Unterstützung. Aus diesen Briefen, die so viel Merkwürdiges enthalten, geht klar hervor, daß A. an die Fähigkeit der Irländer, sich der ihnen von Glad- stone gewollten Zugeständnisse zum Heil ihres Landes zu bedienen, nicht geglaubt hat. Desungeachtet befürwortete er ihre völlige wirtschaftliche und politische Emanzipation. Auch nach der Wendung, die zur Aufrechterhaltung der Integrität des Britischen Weltreichs, zur Verwerfung von Home Rule und zum Imperialismus führte, bis zum Ende seines Lebens, vertrat Lord A. eine politische Richtung, die den Burenkrieg unter anderem verurteilte und den historischen Beruf Englands, seiner Machtstellung in der Welt, die Forderungen der Freiheit, ohne Rücksicht auf Parteiinteressen und ohne Zugeständnisse an die nationalen Aufgaben entgegenstellte. Ganz dieselbe absolute Wertung von Menschen und Dingen drohte, ihn 1880 fast seinem geliebten und ver- ehrten Lehrer Döllinger zu entfremden. In einem Brief an seine Korrespon- dentin fiel die Äußerung über Döllinger: »Milde Klarheit vermehrte sich bei ihm mit den Jahren, obwohl sie Jahre des Konfliktes und des großen Schmerzes gewesen sind, wie Mähner, die nicht für sich leben, ihn um der Sache willen empfinden, für die sie gelebt haben. Auch Starkmut, obwohl in geringerem Maß und des Fehlers wegen, der einem andern großen Manne (Kardinal Newman ist gemeint) anhaftet. Aus einem Gefühl der Würde und der Liebe weigert er sich, alles Schlimme, das im Menschen ist, zu sehen, und in der Absicht, immer liebevoll, edelmütig und der sicheren Seite zugeneigt zu bleiben, ist er nicht immer bestimmt in seinen Definitionen, noch konsequent in der An- wendung von Grundsätzen. Er sucht die Ursachen der Meinungsunterschiede in spekulativen Systemen, in mangelnder Kenntnis, in allem eher als in sitt- lichen Gründen, und das trennt mich von ihm durch einen Abgrund, der beinahe zu tief für Sympathie ist.« Für die Sünden und Irrtümer, mit einem Wort, die unter dem Vorwand, das Gute zu fördern, begangen worden sind, ließ A. keine Milderungsgründe gelten. Von dieser unerbittlichen Strenge bleiben seine Weltanschauung und sein historisches Urteil bestimmt.

Eine Hofstelle politischen Charakters war alles, was Gladstone seinem treuesten Anhänger zu geben fand. Erst Lord Rosebery durchbrach das lange herrschend gebliebene protestantische Vorurteil und berief den Katholiken Lord Acton 1895 als Regius Professor der modernen Geschichte nach Cam-

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bridge. Dreißig Jahre früher hätte die Ernennung seinem Schicksal einen anderen Inhalt gegeben. Auch jetzt noch empfand der Sechzigjährige die Genugtuung als die einzige Gunst, die er gewünscht hatte. Mit dem Vortrag »über das Studium der Geschichte« eröffnete er seine Lehrtätigkeit. Noch sechs Jahre hindurch unterrichtete er seine akademische Jugend nach den strengen Methoden, die er von Deutschland empfangen hatte. Er las über die französische Revolution, über neuere Geschichte im allgemeinen. Er gab die reifen Früchte eines phänomenalen Wissens, einer tiefen Begeisterung, eines nimmermüden Forschergeistes. Er schulte seine Zuhörer zur Einsicht, daß weder Partei, noch Nationalität, noch kirchliches Bekenntnis den Dienst der Wahrheit beeinträchtigen dürfen; er lehrte sie Achtung und Verständnis für gegnerische Anschauungen; Vorsicht, Prüfung und Selbständigkeit in der Beurteilung derjenigen, mit welchen sie übereinstimmten. Er gab und er- wartete die Leistungen einer hohen Kultur, die auf Vornehmheit der Gesinnung, auf edle, reine Lebensführung und Urbanität nicht weniger Wert wie auf geistige Vorzüge legte. Ein längst gehegter Plan näherte sich zu Cambridge der Ausführung. Lord A. entwarf dort das Programm, und berief, vornehm- lich in England, aber auch in Amerika und auf dem europäischen Kontinent die berufensten Kräfte zur Mitarbeit an einer Universalgeschichte von der Entdeckung Amerikas bis auf die Gegenwart, -^^The Cambridge History.^ Das Werk ist auf zwölf Bände berechnet und der Stoff in einzelne Abschnitte gesichtet. Wen der Umfang der Aufgabe und die Größe des Unternehmens schreckte, den beruhigte ein Kollege des Regius Professor, Armstrong, der Historiker Karls V., mit den Worten, wenn alles versagen sollte, sei Lord A. imstande, die Niederschrift der zwölf Bände allein zu übernehmen. Doch es war zu spät, zu spät um mindestens ein Jahrzehnt. Unter der Last ge- häufter Aufgaben brach die Kraft des starken Mannes zusammen. Er lag seit Monaten zu Tegernsee in deutscher Erde gebettet, als seine treuen Genossen den Anfangsband der * Cambridge History* unter seinem Namen als Heraus- geber 1903 veröffentlichten. Das Geschichtswerk im großen Stil bleibt das Denkmal seines Geistes, eine Mahnung an die um ihn trauernde Jugend, die Fackel weiter zu reichen und im Dienste der Wahrheit und Gerechtigkeit das Reich Gottes auf Erden unter dem Zeichen des Kreuzes in Freiheit vorbereiten zu helfen. Das ist Lord Actons Vermächtnis an die Zukunft und sichert ihm, der für eine Idee gelebt hat, die bleibende Stelle im Reich der Ideen und in der Welt des Guten. Lady Blennerhassett.

Belcredi, Richard Graf, Staatsmann, Präsident des österreichischen Ver- waltungsgerichtshofs, * 12. Februar 1823 zu Ingrowitz, f 2. Dezember 1902 zu Gmundcn. Die Familie Belcredi stammt, wie der Klang des Namens andeutet, aus Italien, ist aber schon lange in der österreichischen Monarchie ansässig und in Mähren begütert. Ebenda wurde im Schlosse zu Ingro- witz an der böhmischen Grenze der Mann, dem diese Zeilen gelten, geboren als Sohn des Grafen Eduard und der Gräfin Marie Belcredi (geb. Gräfin Fünf- kirchen). Die Kinderjahre verbrachte Graf Richard B. im elterlichen Hause, die Mittelschuljahre (Gymnasial-Studien, philosophischer Kurs) in dem seinem Heimatsorte nahen böhmischen Städtchen Leitomischl. Dem dortigen Gym- nasium, von den Piaristen geleitet, und manchem seiner damaligen Lehrer,

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z. B. dem P. German, bewahrte B. noch in späteren Jahren warmes Erinnern. Da nach dem Tode seines Vaters die verwitwete Mutter nach Prag über- siedelte, absolvierte er dort die Universitätsstudien (Jura) und trat ungewöhn- lich jung mit 19 Jahren in den Staatsdienst, zunächst beim Kreisamte in Brunn. Sowohl Fähigkeit als Lust zur Arbeit hatte der jugendliche Kandi- dat in ungewöhnlich hohem Maße und brachte diese und andere gute Eigen- schaften eines jungen Beamten so zur Geltung, daß er von seinen Vorgesetzten mit Vorliebe zu Vertrauens-Aufgaben verwendet wurde. Die Urlaubszeit ver- brachte B. im Kreise der Seinigen und zeigte so schon in der Jugend den ernsten und gemütsvollen Mann, dem die Arbeit die liebste Beschäftigung, das Familienleben die liebste Erholung ist. Im Jahre 1848 wurde B. bei der Kreisbehörde in Olmütz angestellt. Der damalige Landeschef Graf Rudolf Stadion gab den jungen Staatsbeamten, die adeliger Abkunft waren (ob allen oder nur einigen, weiß ich nicht) den .seltsamen Rat, aus dem Dienste zu treten, weil er meinte, die Anwesenheit aristokratischer Beamten könnte die Demokraten reizen. B. verließ den Dienst; seine schon damals ange- griffene Gesundheit ließ übrigens eine ausgiebige Kur ratsam erscheinen, und so verbrachte er ein Jahr in Gräfenberg, wo der berühmte Prießnitz persön- lich ihn in seine naßkalte Behandlung nahm. Etwas später kam B. nach Gleichenberg, dann im Jahre 185 1 nach Graz; der letztere Ort sagte ihm zu, er ließ sich häuslich nieder und blieb einige Jahre dort. In doppelter Be- ziehung wurde der Aufenthalt in der lieblichen Stadt, die damals noch weit idyllischer war, als heute, bedeutungsvoll für B.s kommende Lebensjahre. Er begründete dort sein häusliches Glück durch seine im Jahre 1854 voll- zogene Vermählung mit Baronin Anna Weiden, Tochter des Feldzeugmeisters Baron Ludwig Weiden. Mit seiner Gattin, welche ihm einen Sohn und zwei Töchter schenkte, lebte B. durch fast ein halbes Jahrhundert in innigster Liebe vereint. Allein noch eine zweite Verbindung, der er ebenfalls bis zum Ende treu blieb, hat B. in Graz geschlossen. Durch das consilium abeundi seiner Vorgesetzten zu unfreiwilliger Muße verurteilt, dabei erfüllt von Tätig- keitsdrang und Wißbegierde, widmete er sich ganz den Wissenschaften, be- suchte, obwohl über die gewöhnlichen Hochschuljahre und Hochschulkennt- nisse lange hinaus, fleißig die Vorlesungen an der Grazer Universität, und studierte nach Herzenslust, was ihn eben zumeist fesselte: das war wohl vor allem Philosophie, Geschichte, auch Mathematik. Rechtsphilosophie hörte er bei Ahrens, allgemeine Geschichte bei J. B. Weiß, Kulturgeschichte bei Wein- hold. Dieser Neigung zu gelehrten Studien blieb B., so gut es ging, auch während seiner Beamtenlaufbahn treu, und diesem edlen Zeitvertreib huldigte er noch insbesondere in den letzten Lebensjahren, trotz des leidenden Zu- standes seiner Augen, der ihm das Lesen bisweilen sehr erschwerte. Im Jahre 1855 kehrte er wieder in den Staatsdienst zurück und trat den Posten eines Kreishauptmanns in Znaim (Mähren) an, im Jahre 1860 wurde er zum Chef der politischen Verwaltung in Schlesien ernannt. Beim Beginn der konsti- tutionellen Ära im Jahre 1861 wurde B. von dem schlesischen Großgrundbe- sitz in das Abgeordnetenhaus des Reichsrats gewählt, wo ihm gar bald seine Teilnahme an den Arbeiten und Kämpfen der damaligen Zeit einen hervor- ragenden Platz sicherte. Insbesondere trat er in der Debatte über das Lehens- wesen in den Vordergrund; in Schlesien und dem ihm wohlbekannten Mähren

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hatten sich die Feudalitätsverhältnisse in ganz eigentümlicher Weise heraus- gebildet, und B. hatte, mit seinem lebhaften Interesse für derlei geschicht- liche Bildungen sich schätzenswerte Kenntnisse auch in dieser Richtung er- worben. Auch über die Stellung der Kirche zum Staate hatte B. eine be- deutungsvolle Rede gehalten; ferner sprach er sich gegen die von Schmerling aufgestellte Behauptung aus, daß Ungarn durch den Aufstand seine alten ver- fassungsmäßigen Rechte verwirkt habe. Er nahm schon damals die Stellung eines ausgesprochen katholisch-konservativen Politikers ein, der seine Anschau- ungen stets in maßvoller Weise vertrat. Im Jahre 1863 wurde B. zum Vize- präsidenten des k. k. Statthalters in Böhmen, im folgenden Jahre zum Statt- halter ebendort ernannt. Auf allen diesen verschiedenen Posten hat B. sich als gewissenhafter und rühriger, von den besten Absichten geleiteter, dabei scharfsichtiger und hochgebildeter Beamter bewährt.

Als im Jahre 1865 Schmerling demissionierte, wurde B. als Staatsminister zu seinem Nachfolger berufen. Er trug anfänglich schwere Bedenken, das Amt anzunehmen. Ungarn verharrte in passivem Widerstände gegen die Februar-Verfassung und von der Unbezwinglichkeit dieses Widerstandes war B. überzeugt; auch in den übrigen Königreichen und Ländern der Monarchie war es zum Teil gelungen, die Verfassung durchzuführen; die Finanzen waren in keineswegs gutem Zustande; die nationalen Zwistigkeiten, wenn auch noch nicht so intensiv entbrannt wie heute, gaben schon damals Anlaß genug zu schwerer Sorge. Allein dem ausgesprochenen Wunsche seines Monarchen und dem Zureden des Ministers Grafen Moriz Esterhäzy gab er schließlich nach, und übernahm das Amt, welches die größten Schwierigkeiten mit sich brachte, nicht nur in politischer Richtung, sondern auch durch die Häufung der Geschäfte, denn damals war mit dem Staatsministerium auch die Leitung des Kultus- und Unterrichts-Ressorts, sowie das Polizei-Mini- sterium und der Vorsitz im Ministerrat verbunden. Nur die ungewöhnliche Arbeitskraft und der eiserne Fleiß B.s konnte dieser Aufgabe nach ihrer materiellen Seite hin gerecht werden. Wenn er in politischer Beziehung nicht den erwünschten Erfolg hatte, so lag dies an den äußern, mehr als ungünstigen Verhältnissen !

Die Sistierung der Verfassung und die Niederlage zu Königgrätz dies sind die zwei Vorwürfe, welche B. von vielen Seiten gemacht wurden. Es kann nicht die Aufgabe einer biographischen Skizze sein, die Grundhältigkeit beider Vorwürfe genau zu untersuchen. Allein ebensowenig kann ich verschweigen wollen, daß tatsächlich schwere Anklagen dieser Art gegen B. erhoben wur- den; und ebensowenig darf ich meine eigene Ansicht über diese Anklage ver- bergen. Sie geht dahin, daß B.s Gegner ihn mit beiden Vorwürfen, ganz beson- ders aber mit dem zweiten, entschieden Unrecht getan haben! Die im Sep- tember 1865 erfolgte Sistierung der Verfassung hatte im wesentlichen einen deklaratorischen Charakter. Was unter seinem Vorgänger bereits bekannt war, sprach B. durch die Sistierung offen aus, nämlich, daß die Verfassung in der Form und Au.sdehnung, in der sie gedacht war, nicht durchgeführt werden konnte. Der Widerstand, insbesondere von ungarischer Seite, war zu stark. Indem B. nicht die Aufhebung sondern die Sistierung bewirkt, deutet er viel- leicht darauf hin, daß die lebensfähigen PLlemente der Verfassung geschont und künftig verwertet werden sollen; jedenfalls wollte er, wie seine eigenen

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Worte lauteten, die Bahn frei machen, um endlich den unbedingt nötigen Aus- gleich mit Ungarn zu ermöglichen, dabei aber auch, wie es weiter in jener Kundgebung hieß, den »gleichgewichtigen Stimmen« der übrigen Königreiche und Länder bei der Neuordnung der staatsrechtlichen Zustände Geltung zu verschaffen. Ob die Aufgabe unter anderen, günstigeren Umständen ge- löst werden konnte, haben wir heute nicht zu entscheiden. Daß aber der Gedanke, die Repräsentanten aller unter Habsburgs Szepter lebenden Völker zu friedlicher Verhandlung und freiwilliger Einigung heranzuziehen, etwas großes und schönes in sich hatte, sollte doch nicht geleugnet werden. Auch das soll heute nicht entschieden werden, ob der Plan, einen außerordentlichen Reichsrat einzuberufen und demselben das Operat des Ausgleiches mit Un- garn vorzulegen, durchführbar war, obwohl ich glaube, daß der von B. einge- schlagene Weg der einzig richtige war, oder doch der, auf welchem wenig- stens relativ gute Chancen für die Lösung einer, .allerdings außerordentlich schweren Aufgabe zu finden waren. Es ist schwer, diese Ansicht weiter darzu- legen und ihre Richtigkeit durch zwingende Beweise darzutun. Nur soviel möchte ich in tatsächlicher Richtung bemerken, daß B. seinerseits die Schmer- lingsche Rechtsverwirkungstheorie und Zentralisation perhorresziert, anderer- seits aber jenen Dualismus, wie er seither in Erscheinung getreten ist, ge- fürchtet hat. Ihm galt die pragmatische Sanktion nicht bloß als historische Tatsache, sondern als immanentes Lebensprinzip unserer Monarchie, die Schwierigkeit lag für B. wie für seine Vorgänger und Nachfolger in Ungarn ; den Ungarn aber wollte er mehr als Schmerling, weniger als Beust gewähren ; nun kann man aber heute nicht mehr bestreiten, daß die Ungarn für die Schmerlingsche Verfassung nicht zu haben waren; und daß der von Beust inaugurierte Dualismus sich vollständig bewährt habe, kann, insbesondere nach den Ergebnissen der jüngsten Zeit, wohl kaum behauptet werden I Ein g^:^z unberechtigter Vorwurf aber war es, nun gerade den Mann, dessen ganzes Programm auf dem sorgfältigsten Abwägen, Vergleichen und Ausgleichen wech- selseitiger Rechtsansprüche beruhte, des absichtlichen Rechtsbruches zu be- schuldigen. Gleich ungerecht war oder ist der Vorwurf gewalttätiger Reaktion: den Mann, welcher hoffte und ehrlich dahin strebte, die Schwierigkeiten durch offene Aussprüche und freiwillige Verständigung unter den Völkern der Monarchie zu beseitigen, mag man, wenn man will, einen Idealisten nennen, ein Reaktionär war er gewiß nicht. W^as den Vorwurf betrifft, B. habe die Monarchie in den Krieg mit Preußen verwickelt, scheint mir die Wider- legung durch die offen vorliegenden Tatsachen gegeben. Ich will nicht ein- mal besonderes Gewicht auf den bekannten Umstand legen, daß mit der Kriegsgefahr schon vor B.s Berufung zum Minister gerechnet wurde, ja daß der Krieg vielen als wahrscheinlich, wo nicht als unvermeidlich galt; ein kurzer Rückblick auf die geschichtlichen Tatsachen genügt ja, um sich da- rüber klar zu werden, daß ein, ausschließlich mit Angelegenheiten des Innern betrauter, im Sommer 1865 ernannter österreichischer Minister unmöglich ent- scheidenden Einfluß für oder gegen den Krieg nehmen konnte. Der Hinweis auf die einander gegnerische Haltung der beiden deutschen Großmächte ge- legentlich des Frankfurter Fürstentages um von viel älteren Gegensätzen zu schweigen zeigt doch deutlich, daß wenn der casus belli erst im Jahre 1866 auftaucht, die causa belli viel älter war, und viel tiefer lag. Poschingers

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Aufzeichnungen, die Denkwürdigkeiten des Fürsten Bismarck aus der großen Literatur seien uns diese zwei wichtigen Quellen genannt. Sie sind allge- mein zugänglich, und wer sie benutzen will, wird zugeben müssen, daß es wahrlich nicht der Einflüsse B.s bedurfte, um den Kampf zwischen den beiden alten Rivalen hervorzurufen; um ihn zu hindern, hätte er ein Wunder- täter sein müssen! Daß aber speziell in B.s innerer Politik irgend eine Ursache oder auch nur ein Anlaß, je ein Vorwand zum Kriege gefunden werden konnte, darf gewiß nicht behauptet werden. B. faßte, wie erwähnt, die Monarchie als das Österreich der pragmatischen Sanktion auf, als ein aus virtuell gleichberechtigten Ländern bestehendes Reich, in welchem kein Volks- stamm als solcher rechtlich vor dem andern bevorzugt war; wenigstens diesseits der Leitha. Nicht mit diesem Österreich aber hat Preußen Krieg geführt, sondern mit dem spezifisch deutschen, d. h. die Vormacht im Bunde haltenden Österreich. Ohne daß zunächst die innere Politik den Krieg herbeiführen konnte, war doch, zwischen zweien, ein germanisierendes, seinen deutschen Charakter stark hervorkehrendes Österreich bedenklicher und gefährlicher für den deutschen Rivalen, als ein Österreich der nationalen Gleichberechtigung! Daß, wie beispielsweise Friedjung in seinem bekannten Werk »Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland« sagt, B. auf die Entscheidung durch die Waffen hingedrängt habe, ist, wenn es richtig ist, doch nur cum grano salis zu nehmen. H. Friedjung selbst gibt zu, über die internen Vorgänge im österreichischen Kabinet nicht vollständig unterrichtet zu sein, und zwar insbesondere in bezug auf die Tage in der dritten Woche des Monats April 1866, die er als besonders kritische Tage bezeichnet; gewiß mit Recht, aber damals waren die Dinge schon so weit gediehen, daß ich, ohne mich in eine Polemik mit einem gelehrten Historiker von dem Range Fried Jungs einzulassen, doch an meiner Meinung festhalten muß, daß die Haltung eines österreichischen mit der Leitung der äußeren Politik nicht be- faßten Ministers keinen entscheidenden Einfluß auf den Krieg gehabt haben wird. Gerade Friedjungs Verdienst ist es, im Zusammenhange dargestellt zu haben, auf welcher Seite die dämonische Kraft lag, welche den Krieg von langer Hand gewollt, geplant und durchgeführt hat. Im Frühjahr 1866 konnte man vielleicht den Kampf noch ein wenig hinausschieben dauernd zu verhindern war er schwerlich! Nach dem Kriege wurden die Verhand- lungen der Regierung mit Ungarn neuerdings aufgenommen. B. hielt an seinem Programm fest, er blieb dabei, die ungarische Verfassung anzuerkennen, aber die Reichseinheit möglichst zu schonen, das Abkommen mit Ungarn aber dem außerordentlichen Reichsrat vorzulegen. Die Verhandlungen waren vor dem Kriege vornehmlich zwischen B. einerseits und mehreren hervor- ragenden ungarischen Politikern andererseits geführt worden. Da sie nach dem Kriege fortgesetzt wurden, traten neue Persönlichkeiten hervor. Früher waren es vornehmlich Altkonservative gewesen, an welche sich B. gewendet hatte, wie Georg O. Mailäth, Jennyey, welche zum Teil von Franz D^ak be- einflußt sein mochten; nach dem Kriege erschien der zu immer größerem Einflüsse gelangende Graf Andrässy, ein Liberaler, auf der Bildfläche; auf österreichischer Seite trat in die Verhandlungen der den ungarischen Forde- rungen mehr als B. entgegenkommende frühere Botschafter Baron Hübner ein; entscheidendes Gewicht warf insbesondere Graf Beust in die Wagschale.

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Andrdssy versuchte vergeblich, B. zu einem raschen und definitiven Abschluß zu drängen, verhandelte dann mit Beust, und so geschah es, daß B. unter- lag, der Ausgleich geschlossen, der außerordentliche Reichsrat aber nicht ein- berufen wurde. Damit war der Monarchie jene dualistische Gestaltung ge- geben, welche B. als entschiedener Vorkämpfer ihrer Einheit stets perhorres- ziert hatte, und er gab seine Demission ein. Man erzählt, D^ak selbst sei über das Maß des den Ungarn Gewährten erfreut, aber überrascht gewesen; wie weit Hübner hatte gehen wollen, ist schwer fetzustellen, gewiß ist es, daß er mit der schließlich eingetretenen Wendung der Dinge nicht einverstanden war. Mit welcher Festigkeit und Gewandtheit B. seinen Standpunkt verfochten hatte, geht sowohl aus den Memoiren des Grafen Beust, als aus dem Tage- buch des auf ungarischer Seite an den Verhandlungen teilnehmenden H. von Lönyay hervor. Nachdem B. demissioniert hatte, traf ihn das Los so vieler gestürzten Größen; viele kehrten ihm den Rücken, doch D^ak ehrte den alten Gegner, dessen volle Loyalität und geistige Potenz er kennen gelernt hatte, durch einen feierlichen Besuch. B. zog sich nun ins Privatleben zu- rück und lebte in seiner Villa in Gmunden den geliebten Studien. Die einzige Unterbrechung dieser stillen Existenz bestand in seiner Teilnahme an den Verhandlungen des sogenannten Hohenwartschen Landtags, die im Jahre 187 1 zu Prag stattfanden, wo er jedoch wenig hervortrat. Erst im Jahre 1881 wurde B. dem öffentlichen Leben wiedergegeben, da er von S. Maj. dem Kaiser zum ersten Präsidenten d. k. k. Verwaltungsgerichtshofes ernannt und kurze Zeit darauf in das österreichische Herrenhaus als lebenslängliches Mit- glied berufen wurde. B. führte sich als Präsident mit einer vor dem Gre- mium des Gerichtshofes gehaltenen Ansprache ein, welche von seiner hohen und ernsten Auffassung des Rechtes und des Richterstandes, von seiner idea- len Gesinnung lebendiges Zeugnis gab. Sehr eifrig in der Erfüllung seiner Amtspflichten, dabei gerecht und wohlwollend, hatte er gar bald das volle Vertrauen des Richterkollegiums gewonnen. Unermüdlich in jeder Art von geistiger Arbeit, dabei oft im Lesen und Schreiben durch sein Augen- leiden gehindert, war er stets sehr zufrieden, wenn eine von ihm präsi- dierte Sitzung recht lange dauerte, wenn der verhandelte Rechtsfall recht gründlich durchgesprochen, von jeder möglichen Seite beleuchtet wurde, wo- ran er gerne ausgiebigen Anteil nahm. Was von vielen andern als Last empfunden wird, galt ihm als angenehmster Zeitvertreib. Im Herrenhause stimmte er zumeist mit der Rechten (konservativen Partei), ohne jedoch dieser oder jener Gruppe jemals anzugehören. Wiederholt ergriff B. das Wort, und seine Reden wurden immer als wertvolle Beiträge zur Debatte geschätzt und von allgemeiner Aufmerksamkeit begleitet. Auch in seinen Parlamentsreden zeigt B. sich stets als warmer Vaterlandsfreund, als hochgebildeter erfahrener Mann und als vorzüglicher Dialektiker. Sein Vortrag war fließend und vor- nehm, sein Gedächtnis bewundernswert. Ich erinnere mich eines einzigen Augenblicks, in dem er ein wenig im Reden stockte; und, höchst bezeichnend, stockte er nur deshalb, weil er ein Zitat ausnahmsweise vorlesen wollte; wenn er sich auf sein Erinnern verließ, begegnete ihm so was nie! Manches, was er ad verbum genau zitierte, hatte er nur einmal gelesen. Am meisten inter- essierten ihn wohl die mit dem Unterrichtswesen zusammenhängenden Fragen, doch sprach er über die verschiedensten Dinge, und .niemals ohne gründliche

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Vorbereitung. Seine Redeweise bevorzugte, wie es im österr. Herrenhause und ähnlich zusammengesetzten Körperschaften naturgemäß ist, das Argument vor dem Gefühisausd rucke; doch wußte er, wenn es darauf ankam, auch ge- waltig zu erwärmen. Als ein verdientes Mitglied der kaiserlichen Generalität in unwürdiger Weise öffentlich angegriffen worden war, entfesselte B. mit einigen, der Abwehr dieser Angriffe gewidmeten Worten einen Sturm brau- senden Beifalls, wie ich ihn in dem sonst so kühlen, nüchternen Hause im Laufe der 24 Jahre meiner Mitgliedschaft niemals vernommen habe. Als die Beschwerden des Alters und zunehmende Kränklichkeit sich allzu schwer fühlbar machten, trat B. in den bleibenden Ruhestand; nach wenigen Monaten zu seinem Nachfolger ernannt, kann ich von der Liebe und Verehrung, die ihm alle seine Mitarbeiter nachtragen, Zeugnis geben. Gleichzeitig mit dem richterlichen Berufe gab B. auch jede Art politischer Wirksamkeit auf und verlebte seine letzten Jahre in seinem geliebten Gmunden. Zum dritten Male verwandelte sich der Mann des Öffentlichen Lebens in den stillen beschei- denen, dabei stets zufriedenen Privatgelehrten; wie schon erwähnt, hatte B. diese Wandlung zuerst im Jahre 1848, dann 1867 durchgemacht und vollzog sie jetzt im Jahre 1895 zum letzten Male. Zahlreiche Freunde und Verehrer, zu welchen sich der Schreiber dieser Zeilen rechnet, empfanden sein Scheiden von Wien, und noch viel mehr sein im Jahre 1902 erfolgtes Scheiden aus dem irdischen Dasein als schweren Verlust; B. war trotz seiner Gelehrten- neigungen gesellig veranlagt, freute sich über jeden Besucher, mit dem er ernste Dinge besprechen konnte, und wußte interessant zu reden. Aus dem Schatze der Erinnerungen seines reichbewegten Lebens, aus dem Vorrate edler Blüten und Früchte, die er in den Gärten der Wissenschaft gepflückt hatte, teilte er gerne mit. Dabei traten stets die philosophische Auffassung und das menschenfreundliche Wohlwollen B.s zu Tage. Schon während seiner Amtszeit hatte B. sein lebhaftes Interesse an der königlichen Wissenschaft betätigt; soviel ich mich erinnern kann, bezeichnete er in einem, an einen damals tagenden Philosophentag gerichteten Schreiben Krause als den Philo- sophen seiner Wahl; er war ein Bewunderer, aber kein Anhänger Hegels. Als Statthalter in Prag war er wiederholt berufen, bei feierlichen Universitäts- Aulen zu erscheinen. Als er einst bei einer Promotio sub auspiciis Impcratoris^ nach altem Brauche, eine lateinische Rede zu halten hatte und einer seiner Beamten ihm andeutete, das Konzept werde von gelehrter Seite bei solchen Anlässen diskret geliefert, erwiderte er, er wolle schon selbst dafür sorgen, und hielt zum Staunen der gelehrten Hörer eine selbstverfaßte Rede im klassischen Latein. Der Gelehrte und der Philosoph, aber auch der Menschenfreund und wahre Christ, dem das Gebot der Nächstenliebe in Fleisch und Blut über- gegangen ist, zeigt sich in der Ruhe, mit der er seine Erlebnisse, die gegen ihn gerichteten Angriffe seiner zahlreichen Gegner besprach. Nie kam in meiner Gegenwart auch nur ein Wort der Bitterkeit über seine Lippen; und als wir einst über Vergangenes und Gegenwärtiges vergleichend sprachen, sagte er mit einem mir unvergeßlichen bewegten Ernste, es sei doch schön, daß unser Zeitalter verglichen mit früheren Epochen so barmherzig geworden sei. Ich glaube diese Zeilen nicht besser schließen zu können, als mit diesem Zitate, welches für B.s inneres Wesen so bezeichnend ist!

Graf Friedrich Schönborn.

Hassenstein.

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Hassenstein, Bruno, bedeutender Kartograph, * 23. September 1839 i" Ruhla, t 27. August 1902 zu Gotha. Früh zur Beobachtung der Natur ge- wöhnt und im Zeichnen geschult, trat H. mit 15 Jahren in das Geographische Institut in Gotha ein, das eben von Petermann reorganisiert wurde. Debes und Amthor waren seine Mitschüler, Welcker, Habenicht und andere seine Nachfolger. Als Petermann im Jahre 1863 sein Kartenwerk über Innerafrika herausgab, schrieb er: »Bei der Bearbeitung der mühevollen Karte habe ich mich der Hülfe meines mir seit neun Jahren zur Seite stehenden Freundes B. H. (den ich das Glück habe, meinen Schüler zu nennen) zu erfreuen ge- habt, ohne dessen mehrjährigen Fleiß meine Idee nicht hätte ausgeführt werden können.« Zu dieser Zeit handelte es sich für die Kartographie um Aufgaben, wie sie ihr früher und später nicht gestellt worden sind. Nicht bloß um die Fixierung von Tatsachen, sondern um die kombinatorische Aus- füllung und Verknüpfung der Lücken war es den Männern zu tun, die selb- ständige wissenschaftlich -kartographische Mitarbeiter eines Barth, Speke, Schweinfurth, Junker waren. Petermann hat diese Stellung der Kartographie in dem damaligen Zeitalter der Entdeckungen in die Worte gefaßt: »Die topographische Aufnahmekarte ist das Höchste, was die Erdkunde hat, indem sie die genaueste Abbildung der Erdoberfläche gibt und darum wiederum die beste Basis für alle Kenntnis.« Es ist darin etwas Übertreibung, aber aller- dings haben Leute wie Petermann und H. aus der Karte auch ein Werkzeug zur Prüfung neuer Aufnahmen und Angaben gemacht. H. hat dies in vor- trefflicher Weise in seiner Einteilung zur afrikanischen Zehnblattkarte von 1862 formuliert: »Durch die Niederlegung der Nachrichten auf der Karte läßt sich mit ungleich größerer Sicherheit das Bessere vom Irrtümlichen unter- scheiden, als durch bloßes Nachforschen über die Quellen.« H. hat diesen »literarischen Charakter« der Karte, wie er ihn nannte, aufs beste ausgebildet; öfter trägt er verschiedene Angaben nebeneinander ein, um die Differenzen zu zeigen und zur Vergleichung anzuregen; in diesem Sinne sind zahllose Namen und Ortslagen, Flußläufe, Völkerschaften eingezeichnet, und an manchen Stellen findet man sogar Namen angegeben, für deren örtlichkeit einstweilen kein Zeugnis vorlag. So war die erste große Arbeit H.s: Ostafrika zwischen Chartum und dem Roten Meere bis Suakin und Massaua, die im fünften Er- gänzungsheft der Geographischen Mitteilungen 1861 erschien. Man muß sich erinnern, daß das zu einer Zeit war, wo über die Lage von Chartum und anderen großen Orten sich die Welt noch in völliger Unbekanntheit befand. H. fuhr fort, sich mit Afrika zu beschäftigen; sein Werk sind u. a. die vier Karten nach den Aufnahmen der Deutschen Expedition 1861 62, die deren Bericht von 1864 begleiten. Auch hier sind wertvolle »Bemerkungen« bei- gegeben. 1865 erschien von ihm die Karte zur Reise des Fräuleins Tinne im westlichen Nilquellengebiet. 1865 erschien das Blatt: Gebiet der Schnee- berge Kilima-Ndjaro und Kenia mit »Bemerlwingen«, ebenso 1866 die Karte der Wege zwischen Berber und Suakin. In derselben Zeit zeichnete H. die Karten zu Rohlfs Reisen von Marokko nach Tuat, und durch Tuat und Tidikelt. 1866 unterbrach für kurze Zeit eine Übersiedelung nach Berlin diese Tätigkeit. Er begann hier seine wundervollen Karten zu v. d. Deckens großem Reisewerk zu zeichnen. Dieselben sind zu ihrem und ihres Verfassers Schaden erst 187 1 veröffentlicht worden. Manche kleine Karte ist in Berlin entstanden und

30 Hassenstein.

ZU viel Zeit widmete H. dort der Arbeit an einem systematischen Schulatlas. 1868 kehrte H. nach Gotha zurück und beschäftigte sich viel mit der Zeichnung historischer Karten zum Historischen Atlas von Spruner und Menke. Der Tod Petermanns 1878 änderte H.s Stellung und Aufgaben. H. übernahm nun die Leitung des kartographischen Teils der Mitteilungen. Er redigierte zahl- reiche Karten, deren Zeichnung jüngeren Kräften zuüel. Nach dem Tode Behms übernahm H. die Redaktion sämtlicher Karten der Mitteilungen selb- ständig. Unter seinen größeren Werken aus dieser Zeit sei die Vierblattkarte zu Junkers Berichten genannt (1889), der die Bearbeitung von Emin Paschas und Bohndorffs Berichten vorangegangen war. 1891 folgten Karten zu Wissmanns Reisen, 1894 zu Baumanns Reisen im nördlichen Deutsch-Ostafrika. Sven Hedins zentralasiatische Reisen 1894 97 gaben H. Veranlassung sich in die Geographie Zentralasiens hineinzuarbeiten, und das Ergebnis waren die sechs Karten im 131. Ergänzungsheft der Geographischen Mitteilungen mit ausgezeichneten »Bemerkungen«. Die Gebirgskarte Zentralasiens zu Futterers Studien (1896) gehört demselben Kreis an. Ein monumentales Werk für sich ist der Atlas von Japan in i : 1 000000 (1887), den J. J. Rein als ein kritisches und technisch ausgezeichnetes Werk rühmt. Das Lob, das die Namenschrei- bung gerade dieser Karte gefunden hat, erinnert uns daran, daß H. diesem so oft vernachlässigten Gegenstand die sorgsamste Beachtung gewidmet hat. H. behandelte eben die Orts- und Völkernamen gerade so kritisch wie die Länder- oder Flußformen; und außerdem wird man seine Karten immer daran erkennen, daß die Schriftarten mit feinem Gefühl gewählt und dem Gelände angepaßt sind. Es entsprach nur H.s künstlerisch-wissenschaftlicher Natur, daß er die unvermeidliche Schrift, die so manche Kartographen mit Ärger ansehen, ästhetisch-wissenschaftlich in die Karte einpaßte. Hervorragende Werke der letzten Periode sind auch noch die Karten zu den Reisewerken von Hans Meyer und Oskar Baumann 1890 und 1894.

Als H. in das Geographische Institut eintrat, hatte eben dessen Aufschwung unter der Leitung Petermanns begonnen. An jenen Arbeiten, die geschichtlich bleiben werden: Konstruktion und Zeichnung der Barthschen Aufnahmen und der zahlreichen Karten zu Afrikareisen, die im Laufe der nächsten zwanzig Jahre sich drängten, nahm H. immer selbständigeren Anteil. Gleich seinem Lehrer war er mit dem Herzen bei dieser Aufgabe und die Gebiete, an denen er sich früh versucht hatte, wie das äquatoriale Ostafrika, umfaßte er bis zuletzt mit einer besonderen, rührenden Vorliebe. Als Petermann sich mehr und mehr den Polarfragen und den damit zusammenhängenden wissenschaftlichen Dis- kussionen und halbpolitischen Agitationen zuwandte, blieb H. dem dunklen Erdteil treu. Und als Petermann viel zu früh seiner reichen Tätigkeit entrissen wurde, war H. sein geborener Nachfolger in der kartographischen Abteilung der Geographischen Mitteilungen. H. war der begabteste und tätigste Schüler Pet^rmanns. Er hat die Überlieferungen seines Lehrers bis an das Ende seiner Laufbahn bewährt und weitergebildet. In der Kunst der Kartenkonstruktion auf Grund der oft unvollkommenen Routenaufnahmen und mit Berücksich- tigung alles in der Literatur vorliegenden Materials übertraf er noch weit Petermann, denn es lag in seiner Natur, sich viel ruhiger in die einzelnen Aufgaben zu vertiefen. Ich möchte ihn aber doch keinen gelehrten Karto- graphen nennen, denn die künstlerischen Intentionen halten bei ihm den

Hassenstein.

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wissenschaftlichen das Gleichgewicht, ebenso wie er kritisch und künstlerisch zugleich beanlagt war. Einzelne Karten H.s bieten wahrhaft ästhetische Bilder. Er hat allerdings auch nicht die Vielseitigkeit Petermanns erreicht, denn sein Hauptgebiet blieb Afrika, auch als er sich später Japan und Innerasien zu- wandte.

H. hat seine ganze Tätigkeit dem berühmten Perthesschen Institut in Gotha gewidmet. So sind die Hauptabschnitte seines Lebens bestimmt durch die Geschichte dieser Anstalt: als Lehrling hat er die Anfänge der Geographischen Mitteilungen mitgemacht, als Gehilfe hat er zu den glänzendsten Leistungen Petermanns beigetragen, als Meister setzte er dessen Tradition fort. Was sich da in der Entdeckungsgeschichte, in der Geographie und in der Kartographie ereignete und veränderte, das warf Licht und Schatten in dieses Leben. H. empfand es manchmal als einen Zwang, daß er an Gotha und an das Institut gebunden war, als Mensch und Künstler hätte er in einer großen Stadt und besonders in Süddeutschland mehr gefunden. Es gab Momente, wo er die Tragik eines Lebens empfand, das von einem kleinen Punkte aus die ganze Welt betrachtete und beurteilte. Doch haben wir auch Äußerungen von ihm, die erkennen lassen, daß er recht wohl wußte, was das Geographische Institut für ihn bedeutete. Wir können ihn uns jedenfalls nur in dieser Umgebung und unter diesen Einflüssen so vorstellen, wie wir ihn kannten. Allerdings war H.s Leben in Gotha äußerst einfach, ja einförmig und bildete so einen starken Gegensatz zu seinen weltumfassenden wissen- schaftlichen und menschlichen Beziehungen. H. besuchte gelegentlich einen geographischen Kongreß oder Geographentag, aber die wichtigsten Abschnitte seines Lebens in Gotha waren die Besuche der wissenschaftlichen Reisenden, mit denen er in regem Briefwechsel stand. Einst waren Heuglin, Beurmann, Rohlfs, Kersten seine Freunde, später traten an deren Stelle Männer wie Junker, Emin Pascha, Oskar Baumann, Hans Meyer, Sven Hedin. H. war eine Sammlernatur, Briefe, Bilder, ethnographische Gegenstände trug er als Früchte dieses Verkehrs rastlos zusammen. Nicht unempfindlich für äußere Ehrungen, dafür war er viel zu natürlich und ungekünstelt, freute er sich 1887 über den Ehrendoktor von Göttingen, 189 1 über die Karl Ritter-Medaille der Berliner G. f. Erdkunde. Professorentitel und Ordensauszeichnungen fehlten ihm nicht. Die zahlreichen Anerkennungen, die dem Geographischen Institut in der ganzen Welt zuteil wurden, durfte er auch auf sich beziehen. Man kann nicht sagen, daß sein Schaffen unanerkannt und unbelohnt geblieben sei. H.s Gesundheit war nie kräftig gewesen und litt schon früh unter der sitzenden Lebensweise seines Berufes und seiner Neigung. Als er am 27. August 1902 in Gotha starb, hatte er zwar Jahre schleichender Leiden hinter sich, und die fröhliche Schaffenskraft früherer Zeiten war ihm lange vorher entschwunden. Aber so wie sein Äußeres bis zuletzt einen jugendlichen Zug sich bewahrte und sein mittelgroßer, schlanker, fast schmächtiger Körper elastisch beweglich blieb, so bewahrte er sich auch innerlich die frische Farbe und die hellen Augen der Jugend, und entglühte an neuen kartographischen Aufgaben zum alten Schaffensdrang. Blicken wir auf sein Leben zurück, so sehen wir zwar nichts von dem rastlosen Organisieren und Agitieren eines Petermann, es ist aber auch nicht das stille Dasein des Büchergelehrten, wie es sein Kollege Behm führte; H. ist vermöge seiner künstlerisch und zu-

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Hassenstein. Gildemeister.

gleich kritisch beanlägten Natur, deren Freude Sammeln und Sichten reicher Stoffe war, als wissenschaftlich verarbeitender Kartograph über Lehrer und Mitstrebende hinausgewachsen. Gewissenhaftigkeit und feiner Spürsinn für das Unbestimmte oder Unrichtige der Angaben werden uns aus seinen Karten noch lange ebenso klar ansprechen, wie die Schönheit der Ausführung.

Bildnisse von H. brachten die Illustrierte Zeitung vom 4. September 1902 und die D. Rundschau für Geographie 1902. Friedrich Ratzel.

Gildemeister, Otto, Dr. phil., Bürgermeister von Bremen, * 13. März 1823, f 26. August 1902 in Bremen. Nach vollendeten Studien in seine Heimat zurückgekehrt, übernahm G. zunächst die Redaktion der damals gegründeten Weser-Zeitung. Seine klaren, vornehmen und stilistisch unübertrefflichen Artikel erregten alsbald ein weit über Bremen hinausgehendes Interesse. Seine journalistische Tätigkeit hat er bis an sein Lebensende ausgeübt; auch als er längst aufgehört hatte, die Zeitung persönlich zu leiten, schrieb er fast ohne Unterbrechung wöchentlich zwei Aufsätze für sie; außerdem noch manches für »Die Nation« und andere hervorragende Zeitschriften. Alle seine Schriften atmen den Geist des Liberalismus, edelster Humanität und eines weisen Sinnes für Recht und Billigkeit. 1852 wurde G. Regierungssekretär, 1857 Senator. Zu wiederholten Malen hat er Bremen im Bundesrat vertreten. Welche Stellung, welche amtliche Obliegenheit er auch übernommen hat, stets hat er sein Geschäft mustergültig sans phrase geführt.

Im Februar 1890 legte er sein Amt nieder; aber sein Einfluß blieb be- stehen. Bis in sein hohes Alter hat er sich eine wunderbare Schärfe des Gedächtnisses und der Sinne, sowie eine weltmännische Würde bewahrt, die auch nicht durch einen Schatten von Senilität getrübt wurde. Seine letzte Krankheit ist auch seine einzige gewesen.

Aber nicht der bremische Staatsmann, nicht der geistvolle Verfasser so vieler hundert glänzender Leitartikel und Essays ist es, der G.s Ruhm im deutschen Volke begründet hat und bewahren wird. Das ist der Übersetzer. Hier steht G. einzig da. Paul Heyse nennt ihn : der Übersetzer-Gilde Meister. Ihn in dieser Eigenschaft näher zu schildern, lassen wir einen der Nachrufe folgen, welche die »Nation« ihm gewidmet hat.

Im Jahre 1893 wurde dem Verfasser dieser Zeilen die Ehre, zu Otto G.s siebenzigstem Geburtstage ein Porträt des Gefeierten mit ein paar großen Federstrichen zu entwerfen. Die Aufgabe war an sich nicht eben schwierig; denn wesentlich von einander abweichende Auffassungen konnten nicht wohl stattfinden; seine Züge waren so wenig von der Parteien Gunst und Haß ver- wirrt, daß man nur das Beste zu sagen brauchte, was von einem Philosophen, von einem still schaffenden Künstler zu sagen ist, um einer Ähnlichkeit sicher zu sein. Nur G. selbst war oder schien wenigstens nicht der Ansicht; er sagte: »Ihr Bild ist sehr gut gemalt; aber ich glaube nicht, daß es ähnlich ist.« Mit der vollendeten Höflichkeit dieser Wendung hatte er dem Verfasser ein liebenswürdiges Kompliment gemacht und doch von sich allen Anschein abgewiesen, als ob er die Huldigung jenes Aufsatzes selbstgefällig als ge- bührenden Weihrauchtribut einschlürfe. Wir jedoch sind nach wie vor weit mehr als von der guten Malerei von der Ähnlichkeit des Porträts überzeugt

Oildemeister.

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und finden auch nicht einen Punkt, wo wir nun, nachdem er in die Ewigkeit gegangen, mit etwaigen Retouchen noch nachzuhelfen hätten.

G.s Person war, da er ja sein Bremen fast niemals zu verlassen pflegte und er, wie Kant, der äußeren Umgebung kaum einen Einfluß auf sein Geistes- leben einräumte, sondern die Welt nur durch ein Fernglas zu betrachten ge- wohnt war, den weiten Kreisen des Publikums fast unbekannt; selbst in Bremen haben gewiß Hunderte die paar Schritte, die er täglich von seinem Hause zum Rathause und zum Museum ging (und weiter ging er nie), gekreuzt, ohne zu wissen, wem sie begegneten. Darin unterschied er sich in hohem Grade von anderen unserer hervorragenden Bürger, H. H. Meier, Heinrich Müller, H. A. Schumacher, daß er alles ablehnte, was nach Pose aussah. Ein eigener Zauber von Würde und Feinheit umwob ihn und machte jedem, der sich etwa täppisch und dummdreist mit einem schalen Witz vertraulich sich hätte heranmachen wollen, alle Annäherung unmöglich; wenn er dagegen jenen Zauberbannkreis löste, Interesse an dem zeigte, was andere beschäftigte oder von den großen Goldbarren seines Geistes einiges in Kleingeld umsetzte, und dieses in glänzender Unterhaltung zum besten gab, dann gewann er alle Herzen.

G.s Charakteristik ist mit einem Worte zu geben. »Was er leistete, leistete er vollendet.« Er blieb niemals hinter dem, was er gewollt hatte, zurück, weil er etwa seine Kräfte überschätzt hätte ; und wenn der gigantische Gang der Weltbegebenheiten nicht immer seinen Idealen entsprach und die Dinge, namentlich die wirtschaftlichen Angelegenheiten Deutschlands sich in Richtungen bewegten, die er als falsch und verhängnisvoll erkannt hatte, so hat er doch nicht einen Augenblick sich von dem Ausdruck seiner Über- zeugung abhalten oder gar sich dahin bringen lassen, in finsterem Unmute zu schweigen. Mit klassischer Klarheit sein cetcrum censeo auszusprechen, ist er nie müde geworden, ja, fast buchstäblich ist es zu nehmen, daß er nicht müde geworden bis zum letzten Hauch. Dieses beharrliche Eintreten für die Wahrheit, auch wenn sie von einer Welt von Feinden bekämpft wird, ist ein der treuesten Nachahmung würdiger Heroismus. Denn gar zu leicht übt auf Seelen von schwächlicher Überzeugung das tausendstimmige Gebrause der sogenannten öffentlichen und in ihren einzelnen Schichten sich gegenseitig elektrisch steigernden Meinung eine lähmende Wirkung aus; sie zweifeln, sie schwanken: »Kann, wenn ein so ungeheurer Haufe so laut sein ,KreuzigeM schreit, das Anathema wohl ungerecht sein?« Lautes Geschrei hat seit je in religiösen wie in politischen, wirtschaftlichen und künstlerischen Fragen eine große Rolle gespielt und entgegenstehende Meinungen, wenn nicht zum Ein- stimmen, so doch zum Schweigen gebracht. Und Schweigen jenen Mächten gegenüber, mit denen Götter selbst vergebens kämpfen, ist für aristokratisch- exklusive Naturen, wie G. eine war, eine große Versuchung. Er ist dieser Versuchung nicht unterlegen; er hat nicht abgelassen, für seine Überzeugung Zeugnis abzulegen und das immer und ohne Ausnahme in vollendeter, von jedem persönlichen Haß, von jedem Revanchebedürfnis absehender, sich streng an die Sache haltender Ritterlichkeit und Höflichkeit. Ob es ihm schwer geworden ist, sich zu dieser Weisheit durchzuringen? Wer vermag es zu sagen? Vielleicht hat frühzeitige stoische Selbsterziehung ihn dahin gewöhnt, vielleicht ist leidenschaftlicher Sturm und Drang seiner Seele von Haus aus fremd gewesen.

Biogr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog^. 7. Bd. ß

^A Gildemeister.

Wir glauben aus verschiedenen Anzeichen auf letzteres schließen zu dürfen. Wenn ein Mann das ausgesuchteste Rüstzeug der Sprache in Vers und Prosa in Händen hält, Rüstzeug, das in Stärke und Glanz von Hephästos selber geschmiedet scheint, und es nie gebraucht, einer in der Tiefe des Herzens sich regenden dichterischen Leidenschaft Bahn zu brechen in die freie Luft der Außenwelt, so hat diese Leidenschaft, wenn sie überhaupt vor- handen war, gewiß nicht diejenige Allgewalt besessen, ohne die eben ein vollendetes Gedicht nicht entstehen kann. Deshalb sah er, in dessen Augen nur das Vollendete Wert hatte, er, der vollendete Schriftsteller, davon ab, ein Dichter sein zu wollen. Der beste politische Tagesschriftsteller seiner Zeit, das ist ein wahrlich nicht geringer Ehrentitel; ,auch ein Dichter', das hätte ihm keinen Glanz hinzugefügt. G. wußte, daß ein großer Dichter ohne ein tobendes Herz nicht denkbar ist; da jedoch sein Herz nicht tobte, so versagte er sich gelegentliche geistreiche Epigramme und Festverse ausgenommen die dichterische Produktion völlig. Selbstkritik! Selbstkritik! Dabei jedoch war seine sprachliche Begabung so reich, daß er in eigener Überfülle hätte ersticken müssen, wenn er sich nur auf Leitartikel und Essays hätte beschränken wollen. Von früh auf war ihm das Gebiet der Übersetzung vertraut; eine Don Juan-Übersetzung, die allerdings mit der späteren, berühmten wenig mehr gemein hat, fällt bereits in seine Gymnasiastenzeit. In der Übersetzung konnte er wiederum das, worauf es ihm einzig ankam, das Vollendete leisten. Hier konnte er unter den vielen Meistern der Übersetzungskunst, deren sich vor allen anderen die deutsche Sprache rühmen darf, der erste werden. Und so wendete sich der ganze Reichtum der Prägnanz und des Wohlklanges, der seiner Seele eingeboren war, Schöpfungen zu, die bereits von anderer Seite alles, was einem Gedicht unerläßlich ist, besaßen. Für den Schrei der Leidenschaft, für Hohngelächter und glühende Farben der Schilderung hatte Lord Byron, für den ewig sich erneuernden Regenbogen der Phantasie hatte Ariost, für die furchtbare Stimme des Weltrichters hatte Dante gesorgt; es kam nur darauf an, diese ungeheuren und allem Anschein nach von dem heimatlichen Boden und Wesen ihrer Sprache untrennbaren Elemente trotz aller Hindernisse dennoch zu verpflanzen und sie so zu pflegen, daß sie auf unserer eigenen Scholle gewachsen schienen. In welch eminentem Maße G. das erreicht hat, braucht hier nicht abermals ausgesprochen zu werden. Es ist von keiner Seite je bestritten worden; die Kritik hat jedes seiner Werke mit uneingeschränktem Lobe aufgenommen. Außer den Shakespeareschen Königsstücken (Bodenstedtsche Ausgabe) hat er noch vier Dramen Shakespeares übersetzt, deren Herausgabe bevorsteht. Erwähnt sei auch noch eine höchst graziöse Plauderei von Alfred de Musset, die sich liest wie ein Original dieses eigentlich unübersetzbaren Dichters.

Dennoch war G. keineswegs überzeugt, daß seine Übersetzungen ein wirklich treues Spiegelbild der Originale seien, und er war eine viel zu schlichte und gerade Natur, um nur so die übliche Bescheidenheit zu affektieren. Ihm stand der Geist der fremden Sprachen eben so nahe, wie der der eigenen; er empfand alle die durch kein Lexikon und keine Grammatik zu kon- trollierenden Imponderabilien des fremden Idioms, jenen Hauch einer einzigen Wendung, die über einen ganzen Vers einen Schatten oder einen Lichtstrahl ausgießen konnte, und er empfand, was tausend aus gröberem Stoff geschaffene

Gildemeister. ^e

Leser wohl schwerlich nachempfunden haben, daß die deutsche Wendung der fremden nicht ganz gerecht würde. Dann verglich er wohl die Über- setzung mit dem Klavierauszuge eines Orchesterwerkes und resignierte sich dabei: »Besser, wenn das deutsche Volk die großen fremden Dichter in Über- setzungen mit den dieser Literaturgattung nun einmal anhaftenden Unzulänglich- keiten hat, als wenn es sie gar nicht hätte. Mehr als die Hälfte unserer Bildung beruht ja auf Übersetzungsliteratur.« Und als ich daran anknüpfend über die banausische Geringschätzung spottete, die neulich bei der Eröffnung unserer neuen Kunsthalle in hochoffiziellen Reden den Nachbildungen nach der Antike zuteil geworden war, da blitzte in seinen klugen Augen ein lustiges Feuer auf: »Die Antike hat schon viel überlebt, sie wird auch den heutigen Torfbauernkultus überleben.« Ich dachte in diesem Augenblick der paar wunderschönen Abgüsse, welche die vornehme Anspruchslosigkeit seines eigenen Treppenhauses schmücken, und setzte dann im Geiste ein modernes Torfschiff an ihre Stelle. O Musen und Grazien 1

Nicht etwa, daß G. kein Herz für unsere heimische plattdeutsche Art gehabt und nur in höheren klassischen Regionen sich wohlgefühlt' hätte. O, nein! Als tagen-baren Bremer Kind hat er sein Bremertum niemals ver- leugnet; das trat schon im Klange seiner Sprache hervor, die einen ganz speziell bremischen Timbre verriet, und wie ihm alles Affektierte widerwärtig war, auch nicht von dem leisesten Anflug jenes dialektlosen Theaterdeutsch überschminkt war, das man gelegentlich als Kennzeichen feinerer Bildung ausgeben zu wollen scheint. Er sprach ein tadelloses Plattdeutsch, und ihn Fritz Reuter vorlesen zu hören, war ein großer Genuß.

G.s literarisches Lebenswerk ist einstweilen nicht zu übersehen, und ganz vollständig wird es sich auch niemals feststellen lassen. Der überwiegende Teil seiner Schriften besteht in einzelnen Artikeln, die er in erster Linie für die »Weser-Zeitung« schrieb; ihre Zahl berechnet Alexander Meyer auf 5700; auch in dem, in den fünfziger und sechziger Jahren blühenden, Bremer Sonntagsblatt waren seine Aufsätze stets die Juwelen; in der »Nation« ver- hüllte er oft seinen Namen Otto Gi. in dem amüsanten Anagramm Giotto. Dem Tagesschriftsteller jedoch wie dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze. Wie viele große Männer, die jedem Tage das zu reichen imstande waren, was jeder Tag an Nahrung erforderte, sind samt ihren Gaben vom Tage endlich verschlungen worden und zum Orkus gewandert! Denken wir z. B. an einen ihrer allergrößten, an Voltaire. Hat jemals ein Schriftsteller mächtiger auf seine Zeit gewirkt, ihre ganze Geistesrichtung gewaltiger aus dem Qualm der Autodafes und Justizmorde emporgerissen als er? Er ist ein gar nicht wieder hinwegzudenkender Sauerteig des achtzehnten Jahrhunderts. Und wer liest heute Voltaire? Georg Brandes sagte einmal lachend zu dem Ver- fasser dieser Zeilen: »Sie sind der einzige lebende Mensch, der die ganze Henri- ade gelesen hat.« Und neben Voltaire, wie viele haben geleuchtet und sind untergegangen? Von den großen Franzosen und Engländern zu schweigen: wer liest heute Wieland, wer liest Herder, ja selbst Lessing 1 wer liest außer seinen unsterblichen Dichtungen noch seine ästhetischen und philosophischen Schriften? Achl Und ein erneuertes Studium des Laokoon wäre so nötig I Ach! Nur das auf sich selbst ruhende Kunstwerk trotzt der Vergänglichkeit; das Heilsamste und Weiseste jedoch, was, gleichviel in welcher Form, und sei sie

3*

ß5 Gildemeister. Eckmaim.

die abgeklärteste und geschliffenste, dem Tage gedient hat, wird mit dem Tage dahingerafft. So werden wir uns wohl das schmerzliche Eingeständnis nicht ersparen können, daß viele, viele Erzeugnisse des G.schen Geistes, die uns einst zu heller Freude entzückt haben, nunmehr unwiederbringlich dahin sind. Wollte auch dankbare Pietät sie sammeln, als eine Art Memoiren, als Dokumente ihrer Zeit sie herausgeben, ein unter dem Texte schwerfällig einherrollender Beiwagen sachlicher Anmerkungen würde alle Freude ver- derben. Ein spontaner Seitenblick, eine Anspielung auf diese oder jene Lächerlichkeit kann zur rechten Zeit den Leser in die beste Stimmung ver- setzen; allein man muß sie nicht zwanzig, dreißig Jahre nach ihrer Entstehung erläutern wollen. Ein Herbarium wird niemals wieder ein Blumenbeet. Dennoch findet sich unter der reichen Fülle von Aufsätzen und Essays noch eine Menge, die wohl geeignet wäre, den Schatz zu ergänzen, der vor ein paar Jahren unter dem Titel »Essays von Otto Gildemeister« bei W. Hertz erschienen ist. G. selbst fand großes Interesse daran, alte Zeitschriften, z. B. Bände der i>Rarue des deux mondes<i^ aus den vierziger Jahren wieder zu lesen: *Man erlebt seine Jugend gewissermaßen zum zweiten Male«, sagte er. Auch in seinen Aufsätzen, wie viel würden wir wieder erleben! Von dem reinen Genuß, in dieser Zeit der Sprachverrohung unser Deutsch in seiner schlichten, gesunden Schönheit zu empfangen, ganz abgesehen!

Ludwig Bamberger: Charakteristiken, Berlin 1897. 3^9 328.

Unter Otto G.s Namen in Buchform erschienene Übersetzungen sind anzuführen: Lord Byron. Berlin, Georg Reimer. 1864 I. u. II. Band; 1865 III. u. IV. Band, V. u. VI. Band (Don Juan). Shakespeares Dramen, herausgegeben von F. Bodenstedt. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1867 König Johann, König Heinrich der Zweite; 1868 König Heinrich der Vierte, erster und zweiter Teil, König Heinrich der Fünfte; 1869 König Heinrich der Sechste, zwei Teile, König Richard der Dritte, König Heinrich der Achte, Was ihr wollt; 1870 Verlorne Liebesmüh, Das Wintermärchen ; 1871 Julius Cäsar; 1876 Shakespeares Sonette.

Ariosto. Berlin, Wilh. Hertz. 1882 Rasender Roland. 1888 Dante. Göttliche Comoedia.

Essays von Otto Gildemeister. 1896, 1897, Herausgegeben von Freunden. Zwei Bände.

Horn bei Bremen. A. Fitger.

Eckmann, Otto, Professor, Maler, Dekorationskünstler, 19. November 1865 in Hamburg, ^ \\, Juni 1902 in Badenweiler. Der Lebenslauf und die Geschichte der künstlerischen Entwicklung E.s bieten eine Erscheinung, die sich heute im Leben zahlreicher modemer Künstler zeigt: mit der rea- listischen Malerei wird begonnen, man gerät in die Symbolistik, verläßt diese ganze hohe Kunst und widmet fortan seine künstlerische Kraft der an- gewandten Kunst. E. und mit ihm gleichzeitig Hermann Obrist gehören zu den ersten, die diesen Schritt taten, im vollen Bewußtsein, dadurch den Wert ihrer Leistung nicht zu beeinträchtigen und ihre Arbeit nicht einem untergeordneten Ziel dienstbar zu machen. In den Dienst der angewandten Kunst stellte er seine malerischen Fähigkeiten, feine Farbenempfindung, schmiegsame Eleganz der Linie, intimes Naturstudium, das ihn fem von jeder Schultradition hielt, sowie die dem Kunstgewerbe speziell günstigen Gaben, ein angebornes dekoratives Talent und einen lebendigen praktischen Sinn. Dem zartnervigen Empfinden seiner Zeit kam er mit der gesteigerten Sensi- bilität seines kranken Organismus noch zuvor und eroberte sich so im Sturm- schritt einen hervorragenden Posten unter den deutschen Künstlern. Der

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Erfolg begleitete ihn überall; fast alle seine Pläne schlugen ein und die öffentliche Anerkennung wurde ihm durch die Lehrstelle am Kunstgewerbe- museum in Berlin zuteil. In der kurzen Zeit von acht Jahren hatte er sich auf allen Gebieten der dekorativen Kunst eingearbeitet und in einigen vor- bildlich gewirkt; der Fleiß und die Energie des vom Tode gezeichneten Mannes er starb an einem Lungenleiden waren besonders in den letzten Jahren staunenswert. Noch auf dem Krankenbette war er fortwährend tätig, skizzierte Entwürfe und besprach sich mit den ausführenden Handwerkern, in den letzten Tagen machte er Pläne für ein großes Frühlingsbild; hätte ihn vielleicht eine fernere Lebenszeit wieder zu der Malerei, von der er aus- gegangen, zurückgeführt?

In der Geschichte der Reorganisation der angewandten Kunst in Deutsch- land wird Eckmanns Name wohl stets an einer der ersten Stellen genannt werden und seinen Werken kommt ein historischer Wert zu, insofern sie Marksteine einer bedeutenden Entwicklungsphase der deutschen Kunst dar- stellen und einen Ausgangspunkt für die weitere Gestaltung der Dekorations- prinzipien bilden. Als Bahnbrecher nach verschiedenen Richtungen im Ur- walde der herabgekommenen deutschen Handwerkskunst wird E. immer gelten müssen, mag auch mancher Zug seiner reformatorischen Tätigkeit fremden An- regungen entsprungen sein; wie als Maler der holländischen Kunst, so hatte er als Kunstgewerbler den Japanern, der englischen Innendekoration, der heimischen deutschen Möbelkunst von 1830 viel zu verdanken. Seine Richtung ist auch keineswegs das einzige Ideal, zu dem alle Versuche der modernen Dekora- tionskunst hinstreben, ja gerade an der Hauptstätte seiner Wirksamkeit, in Berlin, hatte er einen harten Kampf gegen eine ganz entgegengesetzte Stil- form, gegen seinen Antipoden Van de Velde zu führen; das Eckmannsche Prinzip, direkte Verwertung von Naturmotiven, botanischen und zoologischen, in leichter Stilisierung, und des belgischen Künstlers Dogma von der reinen Linie und dem abstrakten vorbildlosen Ornament rangen als unversöhnliche Gegner solche waren persönlich auch die Autoren um die Gunst des Publikums. Van de Velde nennt Eckmanns Art, die er mit dessen Tode er- loschen glaubt, die Sentimentalität in der Ornamentik; E. dagegen, der un- ermüdlich auf der Suche nach neuen Motiven und Anwendungen war, dem auch die geistreiche Ideenassoziation, die innere Beziehung auf den Gegen- stand in das Ornament hineinspielte, mußte die Manier des Gegners als kahle Einförmigkeit empfinden.

E.s künstlerische Entwicklung durchlief mehrere Metamorphosen und war bei seinem frühen Tode wohl nicht zu Ende. Mit klarem Verständnis er- kannte er sofort, wann ihm eine fruchtbringende Anregung in den Weg kam und wußte sie sich leicht anzueignen und persönlich zu verarbeiten. Das angebome Talent zeigte sich früh; als Sohn eines Hamburger Kaufmanns sollte er für den gleichen Beruf ausgebildet werden, setzte aber seinen Wunsch, die Künstlerlaufbahn zu betreten, durch. Es liegt in ,der Natur der Zeit- umstände und seiner selbständigen Anlage, daß E. der Schule nicht viel zu verdanken hatte, die noch ganz im Banne der alten Traditionen lag; er be- suchte die Kunstgewerbeschule in Nürnberg und die Akademie in München. Desto reicher mögen die Anregungen gewesen sein, die er aus dem Milieu seiner Vaterstadt empfing, wo ja nach Lichtwarks Beobachtung die alte gute

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Tradition von 1830 nie ganz verloren ging und Anläufe zur Erneuerung der dekorativen Kunst sich früh zeigten. In den neunziger Jahren erschienen in München seine ersten Bilder, meist Plein-air-Landschaften ernsten schwer- mütigen Charakters; in der ersten Zeit stand er, wie er selbst angibt, unter dem Einfluß der modernen holländischen Landschaftsmalerei. Schon in diesen Stimmungsbildern läßt sich von Anfang an ein stilisierender Zug nicht verkennen, der die geschlossene Form, die einfache ornamentale Linie, die dekorativ abgestimmte Farbengebung bevorzugt. Bald kam dazu auch eine ausgesprochene Neigung zu symbolistischer Naturauffassung, die ihrerseits die Vereinfachung des Nebensächlichen und Hervorhebung des Charakteristi- schen anstreben mußte, um den gedanklichen Inhalt auszudrücken. Sein größtes Werk in dieser Art, welches diese Hauptrichtungen seiner Malerei zeigt, zugleich eine seiner letzten rein malerischen Arbeiten, ist ein sechs- teiliger Bilderzyklus, die vier Lebensalter darstellend, aus dem Jahre 1894; in Linie und Farbe dekorativ, zum Teil stilisierte Formen, der Inhalt eine symbolische Beziehung zwischen der Natur und dem Menschen. Die vier Lebensalter sind dargestellt durch entsprechende Menschengestalten in Land- schaften, die den Charakter der vier Jahreszeiten tragen.

Mit diesem Zyklus endigt E.s Tätigkeit als Landschaftsmaler, plötzlich und absichtlich vollzieht sich eine Wandlung im Schaffen des Künstlers, die er nach außen in wunderlicher humoristischer Weise kundgibt. Im November 1894 veranstaltet er bei Rudolf Bangel in Frankfurt a. M. eine Versteigerung seiner sämtlichen Ölbilder, etwa zwanzig, und Zeichnungen; die Besucher der Auktion erhalten einen Katalog in schwarzem Umschlag, auf dem in hellem Rot gezeichnete Besen das Moment des Auskehrens satirisch an- deuten, während spöttische Begleitworte die Versteigerung seines »künst- lerischen Nachlasses« ankündigen. »Da sich mein künstlerischer Nachlaß im Laufe der Jahre in etwas plat^aubender Weise vermehrt hat, sehe ich mich veranlaßt, denselben schon jetzt bei Lebzeiten in Auktion zu geben, wodurch mir erstens Raum zu weiterem Nachlaß wird, und zweitens das seltene Glück zufällt, mein eigener Erbe zu sein.« Nun vollzieht sich, zuerst auf dem Gebiet der graphischen Arbeiten, seine Wendung zur dekorativen Kunst, die von nun an die einzige Betätigung des Künstlers bleibt. Auf sein empfäng- liches Talent war es von entscheidender Wirkung gewesen, als Direktor Brinckmann den Künstler auf die japanischen Farbenholzschnitte aufmerksam machte und ihm die Kenntnis dieser Technik vermittelte. Hier fand er die stilisierende Vereinfachung, das graziöse Linienspiel in vollendeter Ausbildung, das sich schon in seinen Landschaften gezeigt hatte und bald erfolgte darauf eine eifrige Tätigkeit in der neuen Bahn. Es erschienen seine ersten 'deko- rativen Farbenholzschnitte, die Schwäne auf schwarzem Wasser, die Schwäne auf blauem Wasser. Ganz nach dem Vorbild der Japaner schnitt er die Zeichnung selb.st in das Holz, so viele Platten als Farben, färbte sie selbst ein und druckte die Abzüge eigenhändig mit dem Reiber auf japanischem Papier. Das Blatt mit den schwarzen Schwänen ist eine stilisierte Studie über das Motiv des schwankenden Linienspiels im Wasser, das er auch späterhin noch oft verwendet hat, z. B. in einer Tapete »Wasserringe« ge- nannt. Die Spiegelung der Schwäne im Wasser, das Strauchwerk am Ufer, alles ist stilisierte Natur. Auf dem zweiten Blatt interessiert ihn dagegen

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eine rasche Bewegung; das Schwanenmännchen schwimmt mit gesträubtem Gefieder eilig dem Weibchen nach. Der Erfolg dieser Blätter brachte dem Künstler bald Bestellungen von Buchhändlern und Zeitschriften und ein reiches Feld für seine omamentale Phantasie eröffnete sich, als die Zeit- schriften »Der Pan« und »Die Jugend« gegründet wurden und ihn als Zeichner gewannen. 1895 im »Pan«, 1896 und 1897 in der »Jugend« trat er zuerst mit seinem originellen omamentalen Buchschmuck auf, der sich in Randleisten, Seitenumrahmungen, Initialen und Schluß Vignetten reich entfaltet. Ein dritter Holzschnitt »Schwertlilien« in schwarz und gelb gedruckt, erschien 1895 als Beilage zum Pan, ebenso der nächste, auch in zwei Farben, drei graue Nachtreiher auf rot beleuchtetem Wasser. 1897 erschien ein neuer Farbenholzschnitt »Mondschein auf dem Wasser«, der eine graugrüne, mond- beleuchtete Wasserfläche und ein Stück Kahn enthält. Im ersten Jahrgang des Pan brachte Eckmann auch eine farbige Lithographie »Wenn der Frühling kommt«, ein nacktes Mädchen in einer Frühlingslandschaft; es zeigt sich hier wie anderwärts, dafi seine Kunst dem Figürlichen nicht gewachsen war. Das Gebiet des Buchschmucks, Titelblätter, Exlibris, Signete u. dgl., wie überhaupt die Flächendekoration blieb auch späterhin Eckmanns Haupterfolg, das kon- struktive, architektonische Moment wußte er nicht immer glücklich zu treffen oder nur in Anlehnung an vorhandene Vorbilder, während er in der Flächen- omamentik einen persönlichen, reizvollen Stil entfaltete. Ausgehend vom sorgfältigsten Naturstudium läßt er auch in der dekorativen Umgestaltung den lebendigen Reiz der Pflanze nachzittem, indem er sie nicht in die vollen, gerundeten Linienzüge der alten Ornamentstile zwängt, sondern sie in den schwankenden, kapriziös geschwungenen oder eckig abbiegenden Linien des Naturvorbildes in die Fläche legt. Mit Vorliebe verwendete er auch die einfachsten heimischen Blüten und Gräser, Farrenkräuter, Kresse, Wicke u. a. In diesen graphischen Arbeiten bringt er meistens im Ornament Anspielungen und Beziehungen zum Inhalt des Blattes an. Das Gedicht »Heimweh« (Pan) umgibt er mit schweren, sich neigenden gelben Tulpen, die Randleiste bildet eine Blüte am geknickten Stengel; das Gedicht »Tal der Flammen« (Pan) hat eine Umrahmung von emporlodernden Flammen; verschiedene Ornamente im Ausstellungskatalog des Krefelder Kaiser Wilhelm-Museums enthalten die Kornblume, die Lieblingsblume des alten Kaisers; eine Seitenverzierung zeigt obeji in der Mitte einen Schwan, welcher sich putzt und längs der Mittel- linie Fedem herabfallen läßt, die sich die Raben auf der unteren Randleiste ins schwarze Gefieder stecken. In den Zierleisten der Jugend und ander- wärts verwendete er auch viele Tiermotive, Fisch, Frosch, Pelikan, Marabu, Libelle, Flamingo, Pfau, Schmetterling u. a., auch zum Teil als satirische Anspielung.

Nach und nach ging er zu den anderen Zweigen des Kunstgewerbes über, zuerst Töpferei, dann Metallgegenstände, Textiles und Möbel, bis schließlich zur Gesamt-Innenausstattung. Auf allen Gebieten wurde er ein Herold der jetzt allgemein anerkannten Forderungen, wenn er auch in der praktischen Ausführung oft nicht gleich das Richtige traf. Als erster Grund- satz galt ihm, daß die Bestimmung des Gegenstandes für Form und Aus- führung maßgebend sei und daraus die zweckmäßige Gestalt entwickelt werde; weiter stellte er die Anpassung an das Material in den Vordergrund,

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und ging an kein neues Gebiet heran, ohne sich mit dem Material und seiner Technik bekannt gemacht zu haben; die heute klar bewußte Not- wendigkeit rein technischer Studien hatte er erfaßt und wurde auf jedem neuen Gebiet zuift Handwerker. Auf der Münchener Kunstausstellung 1897 hatte er mit Knüpfteppichen, Scherrebecker Teppichen und schmiedeeisernen Leuchtern den ersten großen Erfolg, und früh kam er auch zu größeren Auf- trägen. Von größter Tragweite für die Entfaltung seiner eigenen Tätigkeit und die Ausbreitung der neuen Prinzipien war es, als Eckmann 1897 zum Professor der Fachklasse für dekorative Malerei an die Kunstschule des Berliner Kunstgewerbemuseums berufen wurde ; es war zugleich eine öffentliche Bestätigung der Tatsache, daß man sich an ausschlaggebender Stelle der Notwendigkeit einer Reform bewußt war, eine Sanktion der aufblühenden Bestrebungen. In seiner Lehrtätigkeit führte E. mit Eifer seine Methoden ein, Vorlagen wurden verbannt, die Schüler mußten die Motive selbst aus dem Naturvorbild entwickeln. Neben seinem Amt setzte der Künstler die kunstgewerblichen Arbeiten in Berlin fort, die in München angefangen hatten. In viele Industrien, die sich bisher mit Marktware begnügt hatten, drang jetzt die Einsicht, daß es einer Neubefruchtung durch künstlerische Anregung bedürfe und den Künstlern bot sich reiche Gelegenheit, unbebaute Terrains zu kultivieren. Eine durchaus praktische Kraft, wie E., dem es ge^ geben war, sich sowohl den Forderungen jedes Zwecks und Materials fein- fühlig anzupassen, als auch den hergebrachten Wünschen des Publikums mit Verständnis entgegenzukommen, war zu solchen Neuschöpfungen höchst geeignet. Neben schmiedeeisernen Lampen und Leuchtern, Blumenständern, Lampen in Kupfer, Messing und Bronze und Silbergegenständen entwarf er Kartons für Glasfenster, Wandfliesen, malte Deckenfüllungen im Modebazar Gerson und eine Salondecke in Guben und erledigte Aufträge für ganze Zimmereinrichtungen. In den letzteren zeigt sich deutlich, daß ihn keines- wegs die selbstherrliche Neuerungssucht wie manchen seiner Genossen fortriß, sondern daß er das Gute der alten Tradition wohl mit den neuen Errungen- schaften zu verbinden wußte. Die Empiremöbel der Patrizierwohnungen vom Anfang des vorigen Jahrhunderts leben in dem Arbeitszimmer für den Großherzog von Hessen in neuem Gewände wieder auf. Eine Herzensaufgabe war ihm die Schöpfung eines Musikraumes, die er dreimal ausführte, für seine eigene Wohnung, ein Musiksalon für Keller und Reiner und Musikmöbel für den neuen Konzertsaal der königlichen Hochschule für Musik in Charlotten- burg, die zur Weltausstellung in Paris waren. Unter den Neuerungen, die er in der Raumkunst plante, fand eine neue zierliche Säulenbildung, ohne ausgeprägtes Kapital, vielfach Eingang.

Den weitaus größten Erfolg aber, den E. errang wieder auf dem Gebiet der Flächendekoration , brachten ihm seine Teppiche und seine Tapeten. Die Gründung der Webereischule in Scherrebeck, eine Wiederbe- lebung der uralten, primitiven norwegischen Handweberei auf senkrechtem Webstuhl stellte an den Musterzeichner besondere Anforderungen. Diese müh- same häusliche Wirktechnik, die von altersher zumeist zweifarbige Beiderwand- Vorhänge mit geometrischen und Blumenmustern herstellte, hat den Vorteil, daß man nicht auf gebundene Muster beschränkt ist, sondern bildmäßige gobelinartige Vorlagen verwenden kann. Leistikow, Alfred Mohrbutter,

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Christiansen und E. fanden sich jeder nach seiner Manier iri die Eigenart dieser Aufgabe, mit schlichten, naiven Motiven und gewissermaßen eckiger, unbeholfener Zeichnung dem altertümlichen Charakter dieser Handweberei gerecht zu werden und zugleich den modernen Geist festzuhalten. Auf der Pariser Weltausstellung hatte E. einen solchen Teppich »Rückkehr des Früh- lings«. Ein Pfeilerbehang E.s wurde besonders bekannt, welcher einen Wald- bach mit Bäumen am Ufer, von Schwänen belebt, darstellt. Ganz anders als bei diesen hängenden Wandteppichen gestaltet sich die Aufgabe beim Fußteppich; in seinen Knüpfteppichen für die Vereinigten Smjrnateppich- fabriken bot E. seine vollendetsten Leistungen. Seiner Kunst gelang es, den bis dahin verbreiteten Teppich mit den grellen Nachahmungen orientalischer Motive oder den plastischen Darstellungen von Blumenstücken, Architekturen, und dergleichen als künstlerische Unmöglichkeit gründlich zu besiegen und mit wie einfachen Mitteln! Vor allem stellt er sich den Zweck des Liege- teppichs vor Augen: eine ruhige F'läche als Untergrund für die Möbel, mit abgeschlossener Zeichnung, die dem Darauftreten nicht widerstrebt. Als Füllung verwendet er zumeist Flachstilisierung von Pflanzen, Wasserringen, Pfauenfedern oder auch nur nebeneinander gestimmte Farbenflächen von den feinsten mattverschleierten Tönen bis zu kräftigen Farbenwirkungen. Ebenso klar und präzise wie beim Teppich nahm der Künstler auch bei den Tapeten- entwürfen Bedacht auf den Zweck. Er unterscheidet eine Wand, auf der Bilder gehängt werden sollen, von einer solchen, die ohne Schmuck künst- lerisch wirken kann und stimmt demgemäß die Zeichnung. Für die erstereh gibt er ruhige, mattfarbige Flächen mit leichtem, vertikalstrebendem Muster, für die andern bewegteres Ornament in lebhafter Färbung. Auch hier nimmt er meist Pflanzenmotive, für jede Tapete einen Fries, der das gleiche Motiv freier und naturalistischer wieder variiert. Im Sommer 1898 erschienen zum ersten Mal auf der kleinen Darmstädter Ausstellung die neuen Tapeten von E., gedruckt von Engelhard in Mannheim, nach den verschiedenen Motiven benannt: Margueriten, Kastanien, Flamingo, Löwenzahn, 1899 darauf Crocus, Ahorn, Erbse, Grasnelke u. a.; in den Tapeten von 1900 und später, wie überhaupt in den Arbeiten E.s aus dieser Zeit, zeigt sich eine strengere Stili- sierung, z. B. Widder, Helleborus, Palmette u. a. Als gelegentlich der Aus- stellung im Berliner Kunstgewerbemuseum 1902 Tapeten von E. neben solchen Leistikows direkt zu vergleichen waren, traten die Vorzüge der ersteren deutlich hervor, deren Erfolg bis nach Amerika reichte. Daneben entstanden Muster für Velvets und Cretons, Tapestrystoffe, Leinendamaste und seidene Kleiderstoffe. Den graphischen Arbeiten blieb auch inmitten dieser vielver- zweigten Tätigkeit in Berlin ein großer Raum. Der Buchschmuck, der ja auch aus langem Schlummer zu neuem Leben erweckt werden mußte, hat E. manche Anregung zu verdanken, sowohl die innere Verzierung, als auch der Einband und das Vorsatzpapier; denn auch hier ging der Künstler auf das Ganze der Aufgabe ein und gestaltete es einheitlich, wendete die gleiche Sorgfalt dem Buchrücken und dem Hinterdeckel zu, wie der Hauptfläche. Die Belebung der Zeichnung durch satirische oder ernste Beziehung auf den Inhalt spielt in diesen Arbeiten eine große Rolle. Der Umschlag zu dem Buche »Deutschland und seine Kolonien« (Dietrich Reimer) zeigt eine Zeich- nung junger Farrenkrautpflänzchen, als Symbol der angehenden Entwicklung

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der Kolonien; eine große Anzahl von Kopfleisten in dem Werk »Berlin und seine Arbeit«, von demselben Verlag, stellt die Erfolge modemer Maschinentechnik den Handwerkserzeugnissen von früher gegenüber. Durch einen stilisierten Tunnel fährt ein ornamental rauchender Eisenbahnzug, dessen Schienenkurven zwei Bilder begrenzen, das alte Segelschiff und der neue Dampfer; oder stilisierte Flammen umspielen die keramischen Gefäße im Brennofen, die in der Mitte die Drehbank einschließen; ebenso stellt er neben die Holzbrücke die eiserne Hängebrücke, neben das gepanzerte Tumierpferd das leicht gezäumte Reitpferd usw. Mehrere Verlagseinbände für S. Fischer in Berlin sind auch mit symbolischen Verzierungen geschmückt, so »Die versunkene Glocke«, »Die drei Reiherfedem«, »Frau Sorge«, während die Ibsenausgabe und anderes ganz einfach ausgestattet erscheinen. Ein Um- schlag eines Reklameheftes für die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft in Berlin. zeigt rote Blitze, die zwischen den blauen Isolatoren der elektrischen Leitungen zucken. In manchen Textumrahmungen ist allerdings zu viel ge- boten, so daß die Einfassung zu schwer wirkt. Auch bei den Geschäftsmarken und Besitzzeichen waltet die sinnreiche Anspielung im Ornament vor. Für Dr. Uhle zeichnet er das U mit einer Eule, oder als Hinweis auf das Fischerei- liebhabertum ein reizendes Exlibris mit Fischreihern und Fischen. Wer die ungemein zahlreichen Schöpfungen dieser Art durchsieht, die E. mit spielender Leichtigkeit ausstreute, staunt über die Fülle immer neuer omamentaler Ge- danken und launiger Einfälle, auch das reine Linienomament, nur durch zier- lichen Schwung und durch das An- und Abschwellen des Striches wirkend, stand ihm zu Gebote, in Rahmen, Leisten und im Buchstaben. Hiermit kommen wir in der langen Reihe seiner Erfolge zu einem der stärksten, die lang gesuchte Ausbildung einer neuen Schrift. Seiner feinen ästhetischen Emp- findung lag es nahe zu erkennen, daß in den graphischen Arbeiten die geschmackvollste Verzierung nur als unorganischer Aufputz wirken muß, so bald nicht die Hauptsache, die Schrift selbst, sich gefällig in den Raum schmiegt, ja daß eine Schrift allein durch ihre Form und das Satzbild als Schmuck dienen kann. Aus dieser Empfindung heraus hatte er schon manchen von ihm verzierten Text, im Pan und auf Karten und Einbänden in dazu passender Schrift selbst eingezeichnet. Als daraufhin die Rudhardsche Schrift- gießerei in Offenbach den Künstler aufforderte, eine neue Druckschrift für sie zu entwerfen, ging er in Gemeinschaft mit den ausführenden Kräften eifrig an die Arbeit und bildete in jahrelangen Versuchen eine Schrift aus, die dem Geschmack und den Ansprüchen seiner Zeit zusagt. (Satzprobe in »Kunst und Dekoration«, VI. S. 62, im Archiv für Buchgewerbe, 39. Bd. Heft 8 ist ein Artikel in Eckmannschrift gedruckt.) In dem Begleitwort zu seiner neuen Type gibt E. Erläuterungen und stellt als oberste Grundprin- zipien für eine gute Druckschrift Leserlichkeit und Schönheit auf. Das lücken- los geschlossene Seitenbild erreicht er durch die schmiegsame Form und die Vermeidung harter gerader Linien, wie in seinem Ornament bewegt er die Striche durch zarte Schwingung und wechselnde Schwellung und Einziehung, so daß sie lebendig bewegt fließen. Dazu zeichnete er als passendes Buch- omament viele typographische Zierstücke, Leisten, Rahmen, Initialen und Vignetten. Ein Beispiel für die dekorativ wirksame Form von Schriftzeichen ist die von E. stammende Zahl Sieben auf dem Umschlag der »Woche«. E.

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war gleich Hermann Obrist auch bestrebt, in Vorträgen, Zeitungsartikeln und Begleitworten zu seinen Katalogen und Prospekten dem Publikum über seine Ideen Rechenschaft zu geben oder auch sich gegen die Angriffe und den Spott, wie er jedem Neuerer zuteil wird, zu verteidigen. Der oft sehr gereizte, kühn persönliche Stil mag teils einer impulsiven Natur, teils der Nervosität des Leidenden zugerechnet werden, einen Anspruch auf bleibenden Wert haben diese Schriften nicht, da ihnen das ruhige, objektive Urteil fehlt. Als bei der Weltausstellung in Paris seine Arbeiten keinen günstigen Eindruck machten, zum Teil wegen schlechter Aufstellung, teils infolge wirklicher Mängel, schrieb er eine heftige Broschüre: »Der Weltjahrmarkt Paris 1900.« In einer Folge von Vorbildern »Neue Formen« (1897) gab er Entwürfe für dekorative Wandmalereien heraus, die eine Fülle von omamentalen Tier- und Pflanzenformen darbieten. Bezeichnend ist auch hier das Vorwort: »Diese Entwürfe sind weder von alten Meistern entlehnt, noch von mitlebenden ge- stohlen, sondern sind aus der umgebenden Natur entstanden.«

Der künstlerische Nachlaß an Studien und Entwürfen ist von dem Ham- burger Museum für Kunst und Gewerbe, von dem Krefelder Kaiser Wilhelm- Museum und von der Bibliothek des Berliner Kunstgewerbemuseums über- nommen worden. Seinen Entwicklungsgang und damit zugleich das Werden des modernen Ornaments kann man im Pan und in der Jugend verfolgen, Abbildungen seiner Tapeten, Teppiche und graphischen Arbeiten finden sich in allen Kunstzeitschriften vom Ende des Jahrhunderts und weiter.

Entsprechend seiner überall eingreifenden und und wirkungsvollen Tätigkeit wird man Nachrichten über E. in vielen kunstgewerblichen Artikeln und Schriften antreffen, aus denen im Folgenden nur einige erwähnt seien:

Kunst und Kunsthandwerk, 1900 (Brttning über Tapeten); 1901 (Brüning, E.s neueste Arbeiten). Kunstgewerbeblatt XIII (Leistikow). Kunstchronik XIII (Leistikow). Archiv für Buchgewerbe, 39. Band Heft 8, Eckmann-Sonderheft Qean Loubier). Deutsche Kunst und Dekoration 1897, 1901, 1902; April 1900, Sonderheft über E. (Zimmermann. Osbom). Die Nation Nr. 38, 1902 (F. Poppenberg). Dekorative Kunst 1902. Innendekoration 1902 (Nachruf von Van de Velde). Kunst für Alle 1902 3. Jahrbuch der bildenden Kunst 1903. Chronique des Arts et de la Curiosite 1902. Die Krisis im Kunstgewerbe (R. Graul) 1901.

Hugo Schmerber.

Ziemssen, Hugo v., Kliniker, * 13. Dezember 1829 in Greifswald, t 21. Januar 1902 in München.

Z. entstammte einer ursprünglich aus Schweden eingewanderten Familie und wurde in Greifswald als fünftes Kind des schwedischen Hofgerichtsrates, späteren preußischen Geheimen Justizrates Wilhelm Ziemssen geboren. Nach den glänzend absolvierten Gymnasialstudien bezog er 1848 zunächst die Uni- versität seiner Vaterstadt, dann Berlin, um sich entgegen den Traditionen seiner Familie, aber ganz erfüllt von früherwachtem Natursinn, den medizinischen Studien hinzugeben. Entscheidungsvoll für sein ganzes Leben wurde seine Übersiedelung nach Würzburg, im Herbst 1850, woselbst damals der junge Virchow wirkte und in einem Kreise aufstrebender Forscher die Hauptsätze seiner nachmals bahnbrechenden Krankheitsauffassung entwickelte. Als Privat- assistent des jungen Meisters hatte Z. das Glück persönlicher Unterweisung in den neuen Forschungsmethoden der Pathologie und nahm den regsten An- teil an den grundlegenden Untersuchungen des großen Pfadfinders. Neben

Ai^ V. Ziemssen.

Liberalität, mit welcher Magistrat und Staat seinen Wünschen entgegenkamen, konnte Z. nicht bloß die wissenschaftliche Forschung in höherem Stile mit reicheren Mitteln betreiben, es war ihm auch möglich, die Gedanken zu ver- wirklichen, welche sein Organisationstalent in bezug auf Verbesserung des Unterrichts, in bezug auf Prophylaxe, Hygiene und Therapie ersonnen hatte.

Die Hebung des klinischen Unterrichtes gelang ihm besonders durch die Gründung des »Klinischen Instituts« (1877) d. h. einer Zentralstelle, in welcher alle für den Unterricht und die wissenschaftliche Arbeit bestimmten Räume und Mittel vereinigt sind, wo einerseits die Studierenden Gelegenheit haben, die naturwissenschaftliche Methode in ihrer Gesamtheit kennen zu lernen und andererseits Dozenten und Assistenten alle notwendigen Behelfe, sei es zum Unterricht, sei es zur selbständigen Forschung vorfinden. In dieser Muster- anstalt entstand eine Fülle von wertvollen physiologischen und klinischen Arbeiten, welche, soweit dieselben von Z. selbst herrühren, besonders thera- peutische Maßnahmen oder diagnostische Methoden, also vorwiegend praktische Zwecke betreffen. Berühmt sind namentlich die Versuche über den Einfluß konstanter Ströme auf das Herz und die Untersuchungen über intravenöse und subkutane Blutinjektionen zum Zwecke der Blutverbesserung. Derartige Arbeiten wurden später im »Handbuch der allgemeinen Therapie« (Leipzig 1880 84) verwertet und erschienen in großer Zahl im »D. Arch. f. klin. Medizin«, »Virchows Archiv«, in der Berliner und Münchener klinischen Wochenschrift, in den 1878 begründeten »Annalen der städtischen allgemeinen Krankenhäuser« usw. Wie vielseitig das Arbeitsgebiet Z.s war, erhellt daraus, daß sich seine Publikationen unter anderem auf Sykosis und Mentagra, Neuralgie und Neuritis bei Diabetes, seltene Formen der Pleuritis, Cholera, Syphilis des Nervensystems, Ätiologie der Tuberkulose, Bewegungsvorgänge am menschlichen Herzen, Laryngologisches und Laryngotherapeuthisches, Morbiditäts- und Mortalitätsverhältnisse von Variola, Typhus, Pneumonie, Pleuritis, Bronchitis, Angina, Behandlung der Infektionskrankheiten usw. be- zogen. Zahlreiche Aufsätze und Reden behandelten auch das Krankenhaus- Rekonvaleszentenanstaltswesen, sowie insbesondere Fragen des klinischen Unterrichts.

Was Z. als Lehrer war, mit welcher Liebe er sich der Erziehung des medizinischen Nachwuchses widmete, wie er für die Ausbildung der Studenten in der Technik diagnostischer und therapeutischer Methoden sorgte, das kann auch der Fernstehende aus den »25 klinischen Vorträgen« entnehmen, die das getreueste Bild von der Art entwerfen, wie in München der Hochschulunter- richt aufgefaßt wurde. Ähnlich wie die Wiener Kliniker, liebte es Z. keines- wegs, systematische Vorträge zu halten, sondern begann stets mit der ein- gehenden Untersuchung und Besprechung eines bestimmten Falles, an welche sich dann erst ein Überblick über größere Krankheitsgruppen und thera- peutische Maßnahmen anschloß. Wenigstens einmal im Jahre sprach er auch über die »Aufgaben der ärztlichen Praxis« und über »Ethik des ärztlichen Standes«, wobei er wärmere Töne anschlug und die Herzen seiner Hörer zur Begeisterung entflammte. Alle seine Patienten rühmten die seltene Gewissen- haftigkeit, das warme Interesse, welches der große Arzt ihnen entgegenbrachte, jeder, auch der schlichteste Praktiker erfreute sich daran, welchen Anteil der illustre Kollege an der Entwicklung des ärztlichen Standes nahm, und

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selbst der Neuling an der Klinik konnte schon in den ersteh Tagen erkennen, mit welcher Hingebung Z. seinem aus reinster Neigung gewählten Beruf an- hing. Sein Einfluß wuchs täglich, das Vertrauen, das ihm Patienten und Kollegen entgegenbrachten, erreichte den Höhepunkt, wozu allerdings die von vornherein einnehmende Persönlichkeit, in welcher männlicher Ernst mit Milde, starkes Selbstbewußtsein mit Freundlichkeit seltsam vereint waren, vieles beitrug; diejenigen, welche das Glück hatten, näheren Verkehr zu pflegen, wußten, daß Z. trotz aller Hingabe nicht gänzlich im ärztlichen Be- ruf aufging, sondern durch lebhafte Anteilnahme an allem Guten und Schönen, an Kunst und Literatur, an Politik und geselligem Leben seinen vielseitig veranlagten Geist zur harmonischen Ausgestaltung brachte, kurz ein Vollmensch in des Wortes edelster Bedeutung war.

Das brachte ihn, den Norddeutschen, den Münchnern näher, und mehr und mehr wußte er sich, ähnlich wie Billroth in Wien, in die Isarstadt mit ihren besonderen Eigentümlichkeiten einzuleben. Die Liebe zur deutschen Kunststadt brachte er dadurch zum Ausdruck, daß er alle wissenschaftlichen Hebel in Bewegung setzte, um München, den einstigen Typhusherd, getreu den Anregungen Pettenkofers in eine »gesunde Stadt« umzuwandeln. Z., der zuerst dieses Schlagwort münzte, hat neben Pettenkofer am meisten zu dessen Verwirklichung beigetragen, indem er die Früchte seiner hygienischen Studien, die in dem (mit Pettenkofer herausgegebenen) »Handbuch der Hygiene und der Gewerbekrankheiten« (3 Teile, Leipzig 1882 86) niedergelegt sind, zum Wohle Münchens verwertete. Als Mitglied des Ober-Medizinalausschusses und Gesundheitsrates, als Krankenhausleiter beteiligte er sich mit Rat und Tat an den sanitären Verbesserungen, welche in den letzten 25 Jahren vor- genommen wurden, und förderte hierdurch auch indirekt den Wohlstand seiner zweiten Heimat, die ihn in berechtigter Anerkennung zum Ehrenbürger erhob.

Noch bis in die letzten Tage widmete sich Z. mit Eifer den Angelegen- heiten des Münchner Spitals, das unter seiner Leitung durch zahlreiche Neu- bauten vergrößert, durch Errichtung eines »physikalischen Therapeutikums« zu einer Musteranstalt wurde. Seine Fürsorge erstreckte sich weitergehend sogar auf die gebessert entlassenen Spitalspatienten, die bis zur völligen Er- holung in eigenen Rekonvaleszentenheimen (Harlaching) untergebracht werden. Darin, sowie in der Errichtung einer Volksheilstätte für Brustkranke (in Planegg) nach den Intentionen und Plänen von Z.s ging München mancher Großstadt voran.

Inmitten der Arbeit hat ihn der Tod überrascht. Am 7. Januar 1902 hielt er die erste Klinik im neuen Jahre es sollte seine letzte sein. Am 10. Januar erkrankte er unter dem Bilde einer Influenzabronchitis, zu der sich bald schmerzhafte Gelenkschwellungen und multiple Lobulärpneumonien gesellten. Die letzten Tage seines Lebens bewußtlos, schlummerte er am 21. Januar sanft hinüber. An Beifall der Besten unter seinen Zeitgenossen, an Ehrungen von Seite der Kollegen und Mitbürger, an hohen Auszeichnungen durch wohlgesinnte Fürsten hat es ihm nicht gefehlt. Den schönsten Lohn aber trug Z. in sich, im stolzen Bewußtsein, seine herrlichen Geistesgaben zum Wohle seiner Mitmenschen und zur Förderung seiner Wissenschaft verwendet zu haben, in Ausübung des ärztlichen Berufes, welchen er selbst mit den Worten charakterisiert hat: »Er allein verleiht das hohe Bewußtsein, frei zu

^g V. Ziemssen. Baumberg.

sein und aus freiem Willen dem Dienste seiner Mitmenschen sein Bestes, sein Leben zu opfern, getreu dem schönen Sinnbilde, welches Nikolaus van Tulp erwählte, der brennenden Kerze, welche anderen leuchtet, indem sie sich selbst verzehrt.«

Zusammenstellung der Schriften gab A. Schmid im Deutschen Archiv f. klin. Medizin Band 66.

Nekrologe: Berl. klin. VV. Nr. 8 S, 176 178; Deutsche Mcdiz, Wochenschr. Nr. 6 S. 105; Deutsch. Arch. f. klin. Mediz. Bd. 72, S. VI VIII; Prager med. Wochenschrift Nr. 5, S. 59; Klin. therap. Woch. Nr. 5, S. 163; Wiener klin. Wochenschr. Nr. 10, S. 267; Zeitschr. f. klin. Med. XI.V, S. V VII; Wiener med. Wochenschr. Nr. 4, S. 192.

Max Neuburger.

Baumberg, Antonie, Schriftstellerin, geb. Poisard, vermählte Kreiml, 24. April 1859 zu Baumgartenberg bei Berg in Oberösterreich, f '5- April 1902 in Wien. Am 2. Januar 1899 machte die Erstaufführung einer drama- tischen Frauenarbeit am Kaiser- Jubiläums -Stadttheater in Wien »Eine Liebesheirat« auf einen Schlag einen Namen bekannt, den zuvor kaum jemand gehört hatte. A. Baumberg man wußte nicht, wer das war, nicht einmal, ob es ein Mann, eine Frau sei. Das Stück gefiel, ja es machte einen starken Eindruck, der von Akt zu Akt sich steigerte. Der Verfasser wurde gerufen. Da erschien eine Frau in mittleren Jahren, mit verhärmten aber schönen Zügen, die sich zaghaft, offenbar ganz benommen von dem glänzen- den Erfolg, wieder, immer wieder verbeugte. Ein Paar große dunkle, flackernde Augen blickten fast erschrocken hinaus auf die beifallklatschende Menge. Sie schienen zu fragen: Ist's wirklich wahr, was da vorgeht? Träume ich nicht? Am folgenden Tage besprachen die Wiener Blätter den Erfolg dieser ersten Novität des zwei Wochen zuvor, nicht gerade unter günstigen Auspizien er- öffneten Theaters. (Das Kaiser -Jubiläums -Stadttheater war von der anti- semitischen Partei Wiens, unter Proklamation der schärfsten Parteibegrenzung in künstlerischen Dingen geschaffen worden.) Die »Liebesheirat« wurde ein Zugstück dieser Bühne, das in kurzer Zeit seine 25 Aufführungen erlebte und von über hundert auswärtigen Bühnen mit teilweise großem Erfolg aufge- führt wurde.

Es klingt beinahe unwahrscheinlich, daß die Arbeit einer Frau, die vor der Erstaufführung ihres ersten Stückes kaum zwanzigmal überhaupt in einem Theater gewesen war, zu solcher Wirkung gelangen konnte, ohne künstlerische Beratung und vor allem ohne die in Wien überall gesuchte Protektion, hier speziell die Protektion der Presse, die sich z. T. durch ihre Parteistellung der genannten Bühne gegenüber ganz schweigend verhielt.

Eine Sport-Posse »Trab Trab« war B.s erster dramatischer Versuch ge- wesen, der am Raimund-Theater im Mai 1897 aufgeführt wurde, doch ohne Erfolg. In der nächsten Arbeit »Eine Liebesheirat« erkannte der Direktor des Jubiläums-Theaters, A. Müller-Guttenbrunn, das starke dramatische Talent der Verfasserin und erwarb nach dem Glück, welches das eine Stück an seiner Bühne machte, die folgenden sozusagen gleich von der Feder weg. Es wurde sogar ein bindender Kontrakt in dem Sinne aufgesetzt, daß B. sich verpflichtete, jede neue Arbeit zuerst dem Jubiläums- Theater anzubieten. So kam schon im Herbst desselben Jahres, Oktober 1899, das Volksstück »Familie Bollmann« zur Aufführung, ebenfalls mit unbestrittenem Erfolg, obgleich das neue Werk

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in seinem Gesamteindruck den der »Liebesheirat« nicht erreichte. Es brachte stärkere Effekte und an einigen Stellen tendenziös gedeutete Worte, die, wie man bemerkte, im antiliberalen Lager, also beim Stammpublikum dieser Partei- bühne, Ärgernis hervorriefen. Kurz »Familie BoUmann«, die man ihrem Bühnen- wert nach neben Anzengrubersche Volksstücke setzte, vermochte sich nicht lange zu behaupten. Aber die Verfasserin hatte schon ein neues dramatisches Geschoß in Bereitschaft. Am 21. November 1900 folgte die Aufführung des Schauspiels »Das Kind«. Ein interessanter, so recht für ein Frauentalent an- ziehender Stoff, der die Fragen zwischen dem physischen und moralischen Elternrechte auf ein armes, vernachlässigtes und verlassenes, von barmherzigen Menschen dann liebreich aufgezogenes Kind behandelt. Das Schauspiel hatte ungemein packende, ächte Momente, neben theatralisch allzu grell wir- kenden. Man sah an diesem Stück wieder das Talent, wie das schier rätsel- haft sprudelnde Hervorbringen der Verfasserin, die, einmal ergriffen vom Fieber des Erfolges, sich nicht Zeit ließ wohl auch nicht lassen konnte, ihre Werke ausreifen zu lassen. »Das Kind« erlebte, wie »Familie BoUmann«, keine lange Reihe von Aufführungen. Es brachte den Namen der Autorin aber wiederum zu Ehren. Fast gleichzeitig mit dieser Aufführung kam am Raimund- Theater, I. Dezember 1900, eine neue Posse B.s »Vier Strolche« auf die Bretter. Das Stück, dessen Titel schon abstoßend klang, hatte einen ausgesprochenen Mißerfolg, sodaß die Verfasserin selbst das Stück vom Spielplan zurückzog. Nun folgte eine Pause von anderthalb Jahren, in welcher B. nichts neues auf die Bühne brachte, obgleich sie an allerlei »Problemen« arbeitete, fertige Sachen ganz umstürzte, von neuen Seiten anfaßte, alles dies rasch, impulsiv, mit unglaublicher Leichtigkeit der Produktion. Daneben schrieb sie kleine Sachen für Zeitungen, oft wahre Meisterstücke des Humors und drastischer Darstellung. Mit diesen für den Vortrag geschaffenen kürzeren Dichtungen er- schien sie nun fleißig am Vorlesetisch vor dem Wiener Publikum und erntete hellen Beifall mit ihren köstlichen Geschichten aus dem Bauern- und Klein- leben der Großstadt, die sie im Dialekt geradezu brillant vortrug. Sie hatte das Vorlesen so wenig bei einem Meister gelernt, wie die Grundlagen für ihr literarisches Schaffen. Das schoß alles frisch, mit elementarer Kraft auf, wie eine Quelle, die sich Bahn bricht, und dies unter Lebensverhältnissen und in einem Alter, wo sonst dergleichen Wunder selten geschehen. Mit ihren Vor- lesungen eroberte sich die B. erst recht eigentlich das Wiener Publikum. Sie wurde »Mode«, wurde überall eingeladen, gehätschelt. Aus der Frau, die vor kurzer Zeit erst aus ihrem kleinen dunklen Los hervorgetreten war, wurde eine interessante Erscheinung, die in den Salons die Aufmerksamkeit auf sich zog. Das war vielleicht der einzige kurze lichtvolle Abschnitt ihres Lebens, den sie ohne Aufregung, ohne Zittern wirklich genoß. Dann trieb es sie doch unwiderstehlich wieder zur Bühne. Sie hatte einen sehr hübschen Dialekt- Einakter »Nur aus Trutz« geschrieben, auch eine Satire »Max Wiebrecht«. Dazu kam ein Zweiakter »Der Nachtwächter von Schlurn« nach der gleich- namigen Novelle von G. v. Berlepsch (aus dem Bande »Bergvolk«. Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt, 1898), mit deren Dramatisierung sie eines Tages die Verfasserin überraschte. Diese drei Stücke wurden nach gemeinsamer Umarbeitung des letzteren beim Deutschen Volkstheater in Wien einge- reicht und von dieser Bühne im Zeitraum weniger Tage angenommen. Das

Bioffr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog. 7. Bd. a

tQ Baurabergf.

war vielverheißend I Aber bald zeigte es sich, daß hinter der geplanten Auf- führung allerlei Schatten standen. Sie wurde wiederholt hinausgeschoben, durch Kassenerfolge von Zugstücken wie »Alt-Heidelberg«, durch Ereignisse wie die Aufführung von Bjömsons »Über unsere Kraft«. Endlich brachte es die fieberhafte Ungeduld und Energie B.s dahin, daß die drei Stücke am 12. April 1902 zur Aufführung kamen. Aber unter welchen Auspizien! Für das laufende Spieljahr halb erbettelt, halb erzwungen, zwischen Stücke eingeschoben, die einerseits durch ihre Zugkraft, anderseits durch ihre Wucht die armen kleinen Neulinge erdrückten. Und was endlich noch ausschlag- gebend war: Die Erstaufführung fand, ohne vorherige Vereinbarung oder auch nur Benachrichtigung der beteiligten Verfasser, zugunsten der deutsch-öster- reichischen Schriftsteller-Genossenschaft statt, einer Vereinigung, die durch ihre antisemitischen Tendenzen im Gegensatz zu einem bedeutenden Teil des Stammpublikums des Deutschen Volkstheaters stand. Der Effekt dieser »Gunst« war, daß am Tage der Aufführung, wie auf eine ausgegebene Parole, eine große Anzahl Stammsitze an die Kasse zurückgelangte, und daß darauf »wegen ungenügender Kasseneinnahme« sofort die übliche dritte Aufführung abgesetzt wurde. Nur wer das Wiener Parteileben kennt, vermag hinter diesen Tat- sachen die Motive zu erkennen, die hier spielten, und leider nicht allein die achtungswerten Arbeiten einer hochbegabten Schriftstellerin zu Falle brachten sondern sie selbst.

An dem Tage, wo die Absetzung der Stücke in den Zeitungen stand, erschoß sich B. Sie hatte sehnsüchtige Hoffnungen auf die Arbeiten gesetzt, die so viel verheißend rasch angenommen worden waren. Sie kam über das Rätsel dieses Mißerfolges, der für sie schwerwiegende Konsequenzen hatte, nicht hinaus.

Die Frau, die mit kleinen, drückenden Verhältnissen ringend, plötzlich, wie durch ein Wunder, ihr Talent entdeckt, sich endlich Licht und Luft, wenigstens zeitweise und nach einzelnen Seiten hin, geschaffen hatte, durch heiße, fieberhafte rastlose Arbeit, ertrug diesen Sturz nicht. Ihre Widerstands- kraft, ihre vor kurzem noch merkwürdige Elastizität waren aufgerieben im ehr- geizigen Kampf um Geltung und um Brot. Sie war krank, hatte wenige Wochen vor der Aufführung eine Operation durchgemacht und im Bett, sobald es irgend möglich war, wieder zu arbeiten begonnen. Sie wollte Herr ihres Schicksals werden um jeden Preis, wollte es mit dem ganzen licht- und schattenreichen Temperament der Künstlerin. Es war umsonst! Sie, die lange Jahre zäh ausgehalten, mit allen möglichen Qualen und Widerwärtig- keiten des Lebens gerungen, durch ihrer Hände Arbeit sich tapfer durchge- schlagen — sie arbeitete u. A. eine Zeit hindurch in einem entfernten Vor- orte Wiens mit der Strickmaschine, erlag jetzt der einen Enttäuschung über Erwartungen, an die sich ihr Glaube an die Zukunft, an sich selbst festge- klammert hatte. Und seltsam! Der Anfang wie das Ende des meteorhaften Aufleuchtens dieses starken Talentes standen im Zeichen des Wiener Partei- lebens, dem es seinem ganzen Wesen nach innerlich fremd war. Der erste Triumph an einer Bühne, die semitische Autoren und Schauspieler prinzipiell ausschloß, das Ende an einer solchen, wo durch das Hineinspielen ent- gegengesetzter Parteisachen der Erfolg untergraben wurde.

Als das Traurige geschehen war, beschäftigte sich die öffentliche Meinung

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laut tönend mit dem Ereignis, mit den Motiven der Tat und mit Betrach- tungen über manche Wiener Verhältnisse, die bei dieser Gelegenheit wieder in schärferes Licht gerückt wurden. Der Fall B. beschäftigte einige Tage hindurch ganz Wien. Man widmete ihr prächtige Nachrufe, rühmte ihre be- deutende Begabung, nannte sie neben den besten Meistern österreichisch-volks- tümlicher Dichtung. Dann nach einem wahrhaft pompösen Begräbnis, das Hunderte von Leidtragenden und Neugierigen auf die Beine brachte, legten sich die Wogen der Erregung. Und als Nachklang dieses tragischen Lebens- schlusses blieb bald nur noch, wenn da und dort die herzerquickenden Dialekt- geschichten B.s vorgetragen wurden, ein befreiendes, fröhliches Lachen und etwa ein Wort: »Wie schad* ist*s um siel«

Freunde und Kollegen setzten der Toten am ersten Jahrestage ihres Heim- ganges ein hübsches Denkmal. Sie selbst hatte sich aber auch eins gesetzt, kurze Zeit bevor sie die Augen schloß. Es ist das einzige Buch, was von ihr existiert (Wien. Verlag Karl Konegen), eine Auswahl ihrer kleineren und größeren ausgezeichneten Erzählungen, aus denen das österreichertum in seinem besten Sinne, Gemüt und ein wundervoller Humor leuchtet und lacht.

Goswina v. Berlepsch.

Nachbaur, Fr^nz, kgl. bayr. Hofopem- und Kammersänger, * 26. März 1835 auf Schloß Gießen (Württemberg), f 21. März 1902 in München. Nach N.s eigener Erzählung ist er am 26. März 1835 auf Schloß Montfort oder auch auf Schloß Gießen als Sohn eines Oberamtsrichters, der eine große Landwirtschaft besaß, geboren, aber N. gehörte zu jenen nicht gar seltenen Bühnenkünstlern, die mit ihrem Alter und mitunter auch mit ihrer Herkunft zeitlebens gern Verstecken spielen. Sicher ist das Geburtsdatum unrichtig, denn N. feierte plötzlich zur allgemeinen Überraschung schon ein paar Jahre vor seinem Tode unter vielen Ehren seinen 70. Geburtstag, den er doch, wäre seine Angabe richtig gewesen, überhaupt nicht mehr erlebt hätte. Auch seine Herkunft ist dunkel, denn als kurz nach seinem Tode das angesehenste Blatt Württembergs, der »Schwäbische Merkur«, unter dem Titel »Künstlerschwächen« behauptete: Franz Nachbaur sei als Ignaz Nach- bauer und Sohn eines einfachen Zimmermanns, Mühlebauers oder wie man dort auch sagt »Mühlarzts«, der zugleich Acciser gewesen, im Weiler Gießen bei Tettnang geboren, erfolgte von keiner Seite ein Widerspruch. In den Ruinen des in der Nähe der Gießenbrücke an der Argen gelegenen Schlosses, in denen sein Vater damals hauste, wurde N. vermutlich schon 1830 geboren. Auf dem Chor der heimatlichen Dorfkirche sang der achtjährige Knabe häufig mit und zeigte die ersten Spuren musikalischer Begabung. Nach seiner Angabe studierte und absolvierte er aber später das Polytechnikum in Stuttgart, da er Ingenieur werden wollte. In der württembergischen Hauptstadt besuchte er fleißig die Oper und dort scheinen die Triumphe Sontheims die entscheidende Wendung in seinem Leben vorbereitet zu haben. Er ließ sich von Pischek prüfen und wollte Chorist mit 15 Gulden Monatsgage werden ein gewiß bescheidener Wunsch, der ihm aber nicht einmal erfüllt wurde, da der gestrenge Chordirektor ihm Stimme und Talent vollständig absprach. Aber das Selbstvertrauen, das ihn später zu so großen Erfolgen führen sollte, scheint schon damals im jungen N. wach geworden

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ZU sein: mit viel Mut und leeren Taschen zog er von Stuttgart fort und fand 1856 in Basel die gewünschte Anstellung als Chorist bei einer reisenden Opemtruppe, deren Direktor zuletzt den verhängnisvollen Entschluß faßte, in Paris deutsche Opernvorstellungen zu geben. Der unvermeidliche Bankerott war die Folge; der Direktor ließ seine Truppe mittellos, kaum der Landessprache mächtig, in Paris zurück. So lernte N. früh das Wander- bühnenelend kennen. Mit drei jungen Leidensgenossen bildete er ein Solo- quartett und sang nachts in den Bierhäusern und Cafes, um sich und den hungernden Kollegen Brot zu verdienen. Ihm, als dem jüngsten, fiel daneben die Aufgabe zu, mit dem Teller absammeln zu gehen. In diese Zeit des höchsten Elends fiel aber gerade die entscheidende Wendung im Schicksale des jungen Musensohnes. Ein reicher Bankier aus Basel, Alfons Passavant, hörte seinen schönen Tenor, als N. gerade wieder mit seinen Kollegen deutsche Quartette in einem Cafe sang, nahm sich wie ein Vater seiner an und sandte ihn zu Lamperti nach Mailand, wo er zwei Jahre lang fleißig studierte. Der Winter 1858/59 sieht ihn bereits als Mitglied des Meininger Hoftheaters, und nun war er geborgen. Nach einem kurzen Gastspiel in Köln und einem ebenfalls nur kurzen Aufenthalt in Hannover, wo der noch ungelenke Kunstjünger neben der alles überragenden Erscheinung Niemanns natürlich nicht aufkommen konnte, stellte er sich am 14. Mai 1860 als Lionel (Martha) in Prag vor, wo er außerordentlich gefiel, sich seine erste Frau holte und dadurch den Grundstein zu seinem Reichtum legte. Aber schon drei Jahre später verließ er Prag wieder, um einem vorteilhafteren Rufe nach Darmstadt zu folgen, wo er bis 1868 blieb. Im Mai 1867 ließ er sich als Gast an der Hofbühne Berlins hören und in demselben Jahre kam er auch nach München. Hier hörte ihn König Ludwig IL und das war für die weitere Zukunft N.s entscheidend. Im nächsten Jahre erhielt er die Einladung, in der Uraufführung der Meistersinger (21. Juni 1868) den Walther Stoltzing zu übernehmen. Nun ließen ihn Wagner und sein könig- licher Mäcen nicht mehr von München fort. Es war die Glanzzeit der Münchener Oper, und Nachbaur gehörte fortan zu den Lieblingen des Publikums wie des Königs. Wohl führten ihn Gastspiele noch an manche Bühne (u. a. sang er 1878 im Apollo-Theater zu Rom den Lohengrin), aber München ist er seitdem treu geblieben. Im ganzen trat er looi mal in 62 verschiedenen Rollen auf. Am 14. November 1883 feierte er unter großen Ehren sein 25 jähriges Künstlerjubiläum, und am 13. Oktober 1890 verab- schiedete er sich als Postillon von Lonjumeau nur ungern von der Stätte seiner Triumphe. Die Wahl dieser Rolle war für N. bezeichnend. Sie ist trotz Wagner stets seine Lieblingsrolle geblieben. N. war ungleich seinem gleichzeitigen Kollegen Heinrich Vogl, der bis zu seinem Tode sang (s. Biogr. Jahrb. V. Bd. S. 96 98), eigentlich weder ein besonders musikalischer noch sehr intelligenter Sänger, aber er übertraf seinen jüngeren Kollegen durch die glänzendere Erscheinung und den echteren Tenorklang seiner Stimme. Während Vogl, eine durch und durch musikalische und künstlerische Natur, in Wagner lebte und in der Überwindung der schwersten Aufgaben seine höchste Freude fand, zog N., wenn er wählen konnte, jene Rollen vor, wo, wie in der italienischen und französischen Oper, Höhe und Brillanz der Stimme am schönsten zur Geltung kommen. Die Leibrolle Wachtels,

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des ersten Postillons, war denn auch seine Lieblingsrolle. Das Postillonslied mit Peitschenknailbegleitung war sein Schwanenlied auf der Bühne und, durch eine merkwürdige Fügung, auch im Tode. Oft und oft noch sang es N. im Freundeskreise und als der alte Herr es, ein paar Tage vor seinem Tode, noch in einer musikalischen Gesellschaft bei seinem Nachfolger Dr. Walter gesungen, sprang ihm in der Anstrengung beim Nehmen der höchsten Lage, wie es scheint, eine Kopfader, er stürzte und schwebte noch einige Tage zwischen Tod und Leben bis er sanft entschlief. Obwohl etwa 15 Jahre älter als sein Kollege Vogl, sah er bis zuletzt mit seinem immer dunklen Lockenkopf und seiner stattlichen aufrechten Figur viel jünger aus. Niemand würde in ihm einen heimlichen Siebziger erkannt haben. Fast bis zu seinem Tode war es ihm vergönnt, der herkömmlich schöne erste Tenor der alten Oper bleiben zu dürfen, in wie außer der Bühne. Es hat wenige Künstler gegeben, die den Ruhm so bis zur Neige geschlürft haben, wie Franz N. Sein König, der für eine glänzende Er- scheinung bekanntlich nicht unempfindlich war, überschüttete ihn mit Ehren und Geschenken. Die silberne Lohengrinrüstung N.s, ein Geschenk Ludwigs IL, war weltbekannt. Als der Künstler einmal erkrankte, schrieb ihm der König: »Schonen Sie sich! Tun Sie es Ihrer Familie und der Erhaltung Ihrer gott- vollen Stimme, tun Sie es Mir zu Liebe, Ich bitte Sie darum. Ich, der König, der sonst nicht zu bitten gewohnt ist« oder ein andermal: »Wir beide sind Feinde alles Gemeinen und Schlechten und erglühen in heiligem, gottentflammtem Feuer für alles Hohe, Reine und Ideale. Deshalb wollen wir auch unser Leben lang treue und aufrichtige Freunde bleiben.« Nach jeder neuen Rolle sandte ihm der König die kostbarsten Geschenke, und N., der eine kindische Freude an Schmuck hatte und ihn gern, wo es anging, zeigte, wurde deshalb im Freundeskreise oft mit seinem Spitznamen der Brillanten-Nazi genannt. In der Ahnengalerie des Münchener Hof- und Nationaltheaters ist Franz Ignaz N. als Walther Stoltzing verewigt, und mit Recht, denn für ihn wie für die Bühne, die zu seiner zweiten Heimat gewor- den, ist diese Rolle zur entscheidenden geworden; daneben aber hat er auch den Rienzi, Erik, Tannhäuser, Lohengrin, Siegmund, sowie das lyrische und zum Teil auch heroische Tenorfach der vorwagnerischen Oper beherrscht, soweit es bei der ausgesprocheneren und universelleren Begabung seines Kollegen und Rivalen Heinrich Vogl nicht diesem zufiel. Persönlich war N. ein guter und liebenswürdiger Mensch, hülfsbereit wo er konnte und, bei aller Eitelkeit, nicht ohne gutmütige Anerkennung fremden Verdienstes. In den behaglichsten Verhältnissen lebend, liebte er eine, vorzüglich musika- lische Geselligkeit und trug selbst gern dazu bei. Sein bis in die höchsten Lagen schöner Tenor, der auf den Grundlagen des Belcanto und nicht des Wagnerischen Sprechgesanges ausgebildet war N. ist auf der Bühne nie ein guter Sprecher gewesen hielt bis ins Alter stand. In der Geschichte der Münchener Oper wird der Name N.s mit der Premiere der Meistersinger und mit den größeren Richard Wagners und König Ludwigs IL fort- leben.

(Biographien und Nekrologe haben der Neue Theater- Alm anach der Deutschen Bühnengenossenschaft, 14. Jahrg. 1903, S. 151, Ludwig Eisenbergs Großes Biographisches Lexikon der deutschen Bühne im XIX. Jahrhundert, S. 707 und die Münchener Blätter aus

CA Nachbaur. Oechelhaeuser.

Anlaß seiner Jubiläen und seines Todes gebracht. Allen ist das falsche Geburtsdatum gemein.)

München. Alfred Fuhr. v. Mensi.

Oechelhaeuser, Wilhelm, Dr. phil. hon. c, Königl. Preuß. Geheimer Kommerzienrat, 26. August 1820 in Siegen (Westfalen), f 25. September 1902 in Niederwalluf (Rheingau). Unter den vielen tüchtigen Männern, die Westfalens rote Erde dem deutschen Vaterlande geschenkt hat, darf Wilhelm O. einen ersten Platz beanspruchen. Als ein echter Sohn seiner Heimat verband er mit einem geraden, klugen Sinn einen festen Willen und einen unerschütterlichen, emsigen Fleiß; mit solchen Eigenschaften und vom Glück begünstigt, erklomm er allmählich Stufe auf Stufe der irdischen Ehren- leiter. So sehr aber auch ein scharfer Verstand ein hervorstechender Zug in seinem Charakterbilde war, so tief war andererseits sein echt humanes und sein im Hang zum Schönen wurzelndes Empfinden. Dieser glücklichen Mischung eines praktischen Verstandes mit natürlicher Begeisterung für die idealen Schätze des Lebens und einer aus dem Herzen quellenden Güte ist es zuzu- schreiben, daß er neben seinem eigentlichen Schaffensgebiete, dem industri- ellen, auch noch die Grenzgebiete der Politik, Volkswirtschaft und Sozial- politik, sowie das weiter abliegende der Literatur mit großen und fast gleichen Erfolgen bearbeiten konnte.

O. entstammt einer alten, angesehenen, industriellen Familie des Sieger- landes. Mit 14 Jahren verließ er bereits die Schule um als Lehrling in die Papier- und Maschinenfabrik seines Vaters einzutreten, da die Familie derzeit sehr zahlreich war und er suchen mußte, so frühzeitig als möglich selbständig zu werden. Unter der Leitung des Vaters, der der Erfinder des Strohpapier- Maschinensystems war, fand er gute Gelegenheit, sich nicht nur kaufmännisch, sondern auch technisch völlig auszubilden, was ihm namentlich für seine spätere Lebensstellung als Leiter einer der größten deutschen industriellen Gesellschaften von Nutzen geworden ist. Seinen in der väterlichen Fabrik erworbenen tüchtigen Fachkenntnissen, die er durch wissenschaftliche Studien auf der Universität Königsberg während seines Militärdienstes als Einjährig- Freiwilliger ergänzte, sowie größeren Reisen, die seinen Horizont frühzeitig erweiterten, verdankte er es, daß ihm, dem kaum Vierundzwanzigjährigen, bereits im Jahre 1844/45 seitens des preußischen Finanzministeriums der ehren- volle Auftrag zu teil wurde, England und Frankreich zwecks Studiums der dortigen Papierindustrie zu besuchen. In der dem »Freiheitsjahre« 1848 vor- angehenden allgemeinen wirtschaftlichen Krisis, in der Handel und Verkehr stockten, gingen aber auch O.s Aussichten auf Begründung eines eigenen Ge- schäftes unter, sodaß er sich veranlaßt sah, am 4. April 1848 seine Heimat in den westfälischen Bergen zu verlassen und sich einen neuen Wirkungskreis zu suchen. In Berlin, wohin er sich zuerst gewandt hatte, schlugen seine Hoffnungen allerdings fehl, er kehrte aber am 21. Juni dahin zurück, nach- dem er in der Zwischenzeit in Österreich vergeblich versucht hatte, neue Ge- schäftsverbindungen auf Grundlage alter Beziehungen anzuknüpfen, da die dortigen wirtschaftlichen und politischen Zustände fast noch trostloser waren als in Deutschland.

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Von Berlin aus richtete O. nunmehr sein Augenmerk auf Frankfurt a. M., dem damaligen Zentralsitz des politischen und parlamentarischen Lebens. Er traf am ii. Juli dort ein und erreichte durch geschickte Benutzung einer ihm von Freundesseite an den Reichsminister des Handels und der Marine, Herrn Duckwitz, gegebenen Empfehlung und durch eine von ihm über ein handelspolitisches Thema gefertigte Arbeit, die sich mit den Wasserstraßen von den Emshäfen nach dem Rhein, bezw. zwischen Nord- und Ostsee be- schäftigte, daß er Ende September 1848 zunächst »zur Probe« beschäftigt und am 23. Dezember 1848 zum »Reichsministerialsekretär« ernannt wurde. Damit hatte er das Ziel seines damaligen Wünschens erreicht; sein Eintritt in den Staatsdienst leitete aber zugleich einen völlig neuen Abschnitt seines Lebens ein. Aus dem freien Industriellen, der allerdings trotz gediegenster Kenntnisse und fleißigster Arbeit zu keiner Selbständigkeit zu gelangen ver- mochte, war für die nächste Zeit ein Beamter geworden. Aber sein draußen im Kampfe des Lebens erworbener praktischer Blick und seine mannigfachen Erfahrungen und geläuterten Anschauungen waren ihm für seine neue Lauf- bahn gerade von größtem Werte, denn sie befähigten ihn, sowohl in seiner Staats-, als in seiner späteren kommunalen und industriellen Stellung den jeweiligen Verhältnissen stets ein schnelles und sicheres Verständnis und, falls er von ihrer Notwendigkeit überzeugt war, ein frisches Ergreifen und eine rasche Durchführung entgegenzubringen. Mit solchen Eigenschaften fügte er sich allerdings manchmal nur schwer dem eigenartigen Getriebe der damaligen deutschen Zentralgewalt ein; verständigerweise benutzte er aber die ihm in seiner dienstlichen Stellung vielfach verbleibende Muße, um sich in der Nationalökonomie und Handelspolitik gründlich auszubilden. Im Sommer 1849 besuchte er im Auftrage des Reichsministeriums die französische Industrieausstellung in Paris und beantragte auf Grund seines später darüber erstatteten Berichtes und weil er sich dadurch gesicherter in seiner Lebens- stellung fühlte, seine Ernennung zum »Reichsministerial-Assessor«. Es glückte ihm auch, dieses Patent zu erhalten, das nach O.s eigenen Worten das einzige Exemplar dieser Spezies war, welches die deutsche Zentralgewalt ge- züchtet hat. Aus dem immer mehr zur Posse gewordenen Zustand in Frank- furt, der für O.s dienstliche Stellung fast absolutes Nichtstun mit sich brachte, das er jedoch durch emsiges Weiterstudium und eine rege private Mitarbeit an dem handelspolitischen Teile der Frankfurter Oberpostamtszeitung auszu- füllen suchte, führte ihn im Januar 1850 das Anerbieten des diplomatischen Vertreters bei der schweizerischen Eidgenossenschaft wegen Übernahme einer politischen und handelspolitischen Mission nach der Schweiz. Die indirekte Veranlassung hierzu war die Annahme der republikanischen Verfassung seitens der Stadt Neuchätel und ihr daraus resultierender Abfall von der Souveränität der Könige von Preußen, der sie seit 1707 unterstanden hatte. Die preußische Regierung sah sich nach erfolglosen Bemühungen, den Status quo ante auf diplomatischem Wege wieder herbeizuführen, veranlaßt, ihren Vertreter aus der Schweiz offiziell abzuberufen. Bei der Wichtigkeit der wechselseitigen Interessen beider Länder hielt sie es hinwiederum aber doch für angezeigt, eine geeignete Persönlichkeit sowohl mit der politischen Berichterstattung über die öffentlichen Vorgänge und Bewegungen in der Schweiz, als auch mit einer Untersuchung und Begutachtung des am i. Februar 1850 in Kraft

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getretenen neuen schweizerischen Zollsystems zu beauftragen, und hierzu ward O. ausersehen, der sich seiner interessanten Aufgabe mit Umsicht und Geschick unterzog und das Gesamtresultat seiner Beobachtungen in drei ausführlicher? Denkschriften niederlegte. Die erste behandelte die Vorzüge der neuen Bundesverfassung und die Stellung der Parteien zu derselben; die zweite be- sprach die Neuchateier Frage, die erst im Pariser Vertrage vom 26. Mai 1857 ihre endgültige Erledigung durch fast bedingungslose Verzichtleistung des Königs von Preußen finden sollte, und die dritte, mit ausführlichen, statistischen Daten belegte Denkschrift ließ der neuen Zolleinigung der Schweiz volle Ge- rechtigkeit widerfahren und hob deren Vorteile wie einzelne Nachteile für die Zollvereinsinteressen hervor. Letztere Denkschrift ließ das Ministerium des Äußern an alle übrigen Zollvereinsregierun gen versenden. Einen erneuten Antrag, zur weiteren Berichterstattung nach der Schweiz zurückzukehren, mußte O. ablehnen, da er sein Beamtenverhältnis bei der Bundeskommission dadurch gefährdet sah und die preußische Regierung ihm die zur Übernahme in ihren Dienst erforderlichen Staatsexamina nicht glaubte erlassen zu können. So verblieb O. auf seinem dienstfreien Reichministerialassessorposten und studierte, mit scharfem Blick die von Österreich insgeheim beabsichtigte Sprengung des Zollvereins erkennend, unter Zuhilfenahme der Protokolle der Zoll Vereinskonferenzen das gesamte Material aller einschlägigen Fragen. Die im November 1850 zwischen öesterreich und Preußen ausbrechenden Feind- seligkeiten, welche in Olmütz ihr bekanntes, für Preußen so schmachvolles Ende fanden, verursachten O.s Eintritt als Landwehroffizier in die Armee. Als ein Zeichen der preußischen Schwäche, bezw. der preußischen Mitglieder in der Bundeszentralkommission muß es gelten, daß er noch während dieser Zeit militärischer Pflichterfüllung in der zweiten Hälfte des Dezember 1850 seine P^ntlassung aus den Diensten der Bundeszentralkommission erhielt. Die zweieinviertel Jahre, die O. in dem verfahrenen Frankfurter Reichsministerium zubrachte, waren ihm persönlich jedoch immerhin von Vorteil. Denn als er nach seiner Entlassung aus dem Bundesdienst im Frühjahr 185 1 zwei Bro- schüren veröffentlichte, welche neben allgemeinen wirtschaftlichen und zoU- poli tischen Fragen speziell auch den von Österreich gefährdeten Zollverein behandelten, wurde er infolgedessen, und in Erinnerung an seine Berichter- stattung über die 1849er Pariser Industrieausstellung und an seine Begut- achtungen über das Schweizer Zollwesen sowie seine sonstigen nationalöko- nomischen Arbeiten zum Mitgliede der Zollvereinskommission bei der ersten Londoner Weltausstellung von 1851 gewählt; drei Jahre später (1854) wurde er Miglied der Münchener Industrieausstellung. Das Bekanntwerden seines Namens in weiteren Kreisen war indirekt also unstreitig eine Folge seines I**rankfurter Aufenthaltes. Als es ihm aber geglückt war, 1852 als Bürgermeister der rheinischen Stadt Mülheim a. Ruhr gewählt zu werden, da wurde ihm der gleiche Grund fast zum Nachteil, indem der damalige Oberpräsident von Westfalen, Staatsminister v. Düesberg, die Genehmigung dieser Wahl beim Könige nicht beantragen wollte. Der freundschaftlichen Vermittlung jenes früheren diplomatischen Vertreters bei der schweizerischen Eidgenossenschaft, dem O. seine 1850er Mission verdankte, gelang es jedoch, die schweren ministeriellen Hedenken zu zerstreuen, sodaß die Bestätigung schließlich doch noch erfolgte. So war O. nun Bürgermeister im rheinischen Heimatlande. Aber auch

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in dieser neuen voraussichtlichen Lebensstellung sollte seines Bleibens nur vier und ein halbes Jahr sein. Wie er diese verhältnismäßig kurze Zeit in einer ihm zunächst völlig fremden Sphäre zum Segen der Stadt aber zu nutzen verstand, das hat die Stadtverwaltung von Mülheim selbst anerkannt, als sie ihm 1881, gelegentlich des 25jährigen Amtsjubiläums in seiner späteren industriellen Stellung, in Erinnerung an das Geschaffene schrieb, daß er »viel, sehr viel für die Entwicklung der Stadt getan habe, wofür sie ihm noch heute zu großem Danke verpflichtet sei« und femer seine vielfachen Bemühungen um das Eisenbahnwesen und die Schiffahrt von Mülheim, ferner seine Mitwirkung zu dem vollständigen inneren und äußern Ausbau der dortigen Realschule und seine großen Verdienste um das städtische Beleuchtungswesen hervorhob. Aus der Aufzählung dieser Tatsachen und der Art und Weise ihrer Durch- fiihrung leuchtet uns überall der weitsichtige Kaufmann und Organisator, so- wie der praktische Techniker entgegen. Sein Verdienst um die städtischen Interessen Mülheims, besonders dasjenige um das Beleuchtungswesen, trug schnelle Frucht, indem es ihm den Übergang in seine Hauptlebensstellung anbahnte. Der damalige erste Direktor der »Deutschen Kontinental-Gas- gesellschaft«, Regierungs- und Baurat Hans Victor von Unruh auch ein 1848er , hatte O. beim Abschluß des Mülheimer Gasbeleuchtungsvertrages »als eine hervorragende Persönlichkeit« kennen gelernt und bot ihm im August 1856, wo das am 12. März 1855 neu gegründete Unternehmen »im vollen Schwünge« war, die Stelle eines verwaltenden, dritten Direktors an. O. nahm das Anerbieten an, obschon er sich »in einer Stellung befand, die ihm für jetzt und alle Zukunft eine gesicherte Existenz und einen sehr schönen Wirkungskreis bot, der ihm in persönlicher und sachlicher Beziehung wirk- lich ans Herz gewachsen war«. Das Ausschlaggebende dafür, daß er sich dennoch zum Wechsel der Stellung entschloß, war »die alte Anhänglichkeit an das kaufmännische und technische P'ach, dem er ursprünglich angehörte«, sowie daß »die Dessauer Gasgesellschaft auf solidester Grundlage errichtet war und einen neuen Gewerbszweig ausbeutete, der eine große Zukunft vor sich hatte und ihm ebenfalls einen schönen Spielraum für lohnende Tätigkeit bot, wie *er auf dem Gebiete der Industrie selten gefunden werden kann.« Wer O.s Lebensgange bis hierher mit Aufmerksamkeit gefolgt ist, sieht auch in diesen seinen persönlichen Äußerungen, daß er nicht eine Natur war, welche eine ihr zugefallene auskömmliche und befriedigende Stellung freudig und ruhig genoß, sondern ein Mann, der sie mutig daran gab, wenn er auf einem größeren Schaffensgebiet, auch wenn es erst in der Entwicklung be- griffen war, sein »geistiges Pfund« glaubte besser verwerten zu können. So trat er denn am 14. November 1856 der exekutiven Spitze der Dessauer Gas- gesellschaft zunächst als drittes Mitglied bei. Als aber kaum sechs Wochen später Herr von Unruh von der Stellung eines verwaltenden Direktors zurück- trat und auch der zweite Direktor an der Leitung der laufenden Geschäfte keinen Anteil mehr nahm, war O. vom i. Januar 1857 ab tatsächlich alleiniger Direktor der Gesellschaft. Am 15. März 1858 wurde er zum Generaldirektor gewählt, der er bis zum 31. Dezember 1889 verblieb. Was er in diesen ^^ Jahren für die Dessauer Gasgesellschaft geleistet hat, das kann im Rahmen dieser biographischen Skizze nur kurz dahin zusammengefaßt werden, daß sein Name in diesem langen Zeiträume untrennbar mit allem verknüpft ist,

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was der Gesellschaft in technischer und administrativer Hinsicht nicht nur zu ihrer besonderen, sondern auch zu ihrer allgemeinen Bedeutung in der Gasindustrie verholfen hat. Für den Fachmann sei hinzugefügt, daß sich die Gesamtgasproduktion der Gesellschaft von 705444 cbm im Jahre 1856 in 6 Gasanstalten auf 32 Millionen cbm im Jahre 1889 in 14 Gasanstalten im anlande und 3 Anstalten im Auslande hob. Daß ein derartiges Aufblühen eines neuen industriellen Unternehmens die größte Umsicht und den regsten Fleiß selbst eines so geschäfts- und welterfahrenen Leiters, wie es O. war, er- forderte, bedarf kaum der Erwähnung. Auf die Jahre des Sorgens und Mühens kamen aber auch Jahre ruhigeren Besitzes und diese Zeiten benutzte der Rast- lose und Nimmermüde, um seinen persönlichen schöngeistigen Neigungen mehr als bisher zu huldigen.

O.s Vorliebe für das Theater ist bekannt. Seine Lieblingslektüre in frühester Jugend waren einige Übersetzungen Shakespearescher Dramen; dies, sowie seine spätere pflichtgemäße Beschäftigung mit der englischen Sprache, sein Besuch Englands in den Jahren 1844^45 und seine allgemeine künst- lerische Neigung wirkten zusammen, um ihn ganz besonders auf Shakespeare hinzuleiten. >^In dem der großen Jubelfeier von Shakespeares 300. Geburtstag vorangehenden Jahre 1863 faßte er den Plan, der Gründung einer deutschen Shakespeare-Gesellschaft näherzutreten«, wobei er von seinen Freunden Dingel- stedt, R. V. Gottschall, A. v. Loen, F. A. Brockhaus, H. Markgraf u. a. lebhaft unterstützt wurde. Die von O. ^tworfenen und versandten »Ideen zur Grün- dung einer deutschen Shakespeare-Gesellschaft« fanden derartigen Beifall, daß am 23. April 1864 auf Weimars klassischem Boden, der Bühne Goethes und Schillers, die O. mit 18 Jahren von Erfurt aus, als Schüler einer technischen Lehranstalt, zum ersten Male besucht hatte, mit Unterstützung des Groß- herzogs Karl Alexander und namentlich der Großherzogin Sophie die Grün- dung tatsächlich erfolgte. Was die Shakespeare-Gesellschaft in den vierzig Jahren ihres Bestehens für das deutsche Geistesleben geworden ist und wie sie allmählich Einfluß auf die breitesten Volksschichten gewonnen hat, das ist zumeist ein Verdienst O.s, der obwohl nach seinen eigenen Worten nur ein Autodidakt auf dem Gebiete der Shakespeareforschung * an ihrer Tätigkeit stets hervorragenden und bestimmenden Anteil nahm. Zwölf Jahre hindurch (seit 1890) war er Präsident der Gesellschaft. Einen Lieblings- wunsch seiner letzten Leben.sjahre, die Errichtung eines Shakespearedenkmals auf Weimars Boden, konnte O. nur vorbereiten helfen; seine FMülIung, die Enthüllung des Denkmals im Jahre 1904, erlebte er leider nicht mehr.

Mit dem gleichen Feuereifer, den O. seinen Shakespearestudien entgegen- brachte, ergriff er auch das weitschichtige Gebiet der Politik, als ihm 1878 nach Beendigung einer Bühnenbearbeitung sämtlicher 27 zur Aufführung ge- eigneter Shakespearedramen der IL anhaltische Wahlkreis ein Reichstags- mandat antrug. Seine ersten politischen Sporen hatte sich ()., wie wir weiter oben sahen, 1850 bei der Schweizer Mission verdient; in der späteren Zeit seiner Bürgermeisterschaft war er Mitglied des preußischen Abgeordneten- hauses für die Kreise Mülheim a. Ruhr und Rees gewesen. Sein Reichstags- mandat war also gewissermaßen nur eine Fortsetzung seines früheren po- litischen Wirkens und er behielt es ununterbrochen bis zum Jahre 1893; während dieser Zeit hat O. im deutschen Parlament eine seiner Person und

Oechelhaeuser.

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seinem Wissen entsprechende einflußreiche Tätigkeit entfaltet. Wie er seinen politischen Standpunkt von jeher bei den Parteien des gemäßigten Liberalis- mus gefunden hatte, so schloß er sich auch als Parlamentarier der national- liberalen Partei an und blieb ihr bis zu seinem Lebensende treu. Seine engen persönlichen Beziehungen zu Rudolf von Bennigsen sind bekannt. »Eine politische Wandlung schreibt O. 1892 in seinen »Erinnerungen« habe ich nie durchgemacht; denn noch heute bekenne ich mich zu den gleichen, allerdings durch Erfahrung geläuterten Grundsätzen wie beim Ein- tritt in jene große Bewegung«. Als positive Ergebnisse seiner parlamentarischen Tätigkeit seien hier vor allem seine wesentliche Anteilnahme an der Reform der Aktiengesetzgebung, sowie seine Urheberschaft an dem Reichsgesetz be- treffend die Gesellschaft mit beschränkter Haftung und seine rastlosen Be- mühungen auf sozialpolitischem Gebiete genannt, die eine praktische Durch- führung der Kaiserlichen Botschaft vom 4. Februar 1890 bezweckten. Namentlich auf letzterem Gebiete war O. ein weitsichtiger Politiker und ein unerschrockener Mahner des Großbürgertumes und der Großindustrie, indem er offen aussprach, daß sozialpolitische Bestrebungen ohne materielle und ideelle Opfer auf Seiten der Arbeitgeber jeder Basis entbehrten. Sein Ausspruch: »Was für den Arbeiter geschieht, soll auch durch ihn geschehen (»Soziale Tagesfragen«) dient seither allen modernen sozialpolitischen Bestrebungen zur Richtschnur. Aus dieser Erkenntnis heraus gründete er im Dezember 1887 mit Gleich- gesinnten den »Verein anhaltischer Arbeitgeber«, der den größten Teil der anhaltischen Großindustrie umschließt, und durch seine Fundamentaleinrich- tungen: »Arbeiterausschüsse« und »Ergänzende Hilfskassen« vorbildlich für eine ganze Reihe ähnlicher Schöpfungen über ganz Deutschland und dessen Grenzen hinaus geworden ist. Seinem weitausspannendem Geiste entsprach es femer, daß er auch das lebhafteste Interesse an der kolonialen Entwick- lung Deutschlands nahm und als Mitglied des Kolonialrates Mitschöpfer der Deutsch-Ostafrikani selben Gesellschaft wurde, auch Mitglied einer großen An- zahl Plantagengesellschaften war. O. selbst legte eine eigene Plantage in Kamerun an (Oechelhausen bei Isongo). Die letzten eifrigen Bemühungen seines Lebens auf kolonialem Gebiete betrafen die Schaffung einer Ostafrika- nischen Zentraleisenbahn, deren erste Strecke im Jahre 1904 vom Deutschen Reichstage nach langen Kämpfen genehmigt worden ist.

Es konnte nicht ausbleiben, daß einem so vielseitigen, mit reichen Geistes- gaben ausgestatteten Manne, der, wohin ihn auch sein Schicksal rief, überall mit voller Kraft sein ganzes Wissen und Können einsetzte und damit, soviel menschliches Wirken vermag, zumeist auch den Erfolg an sich zog, äußere Ehren in reicher Zahl zu teil wurden. 1874 wurde er Königl. Preußischer Geheimer Kommerzienrat; 188 1 verlieh ihm die Stadt Dessau das Ehren- bürgerrecht; 1883 erhielt er vom Herzoge von Anhalt den erblichen Adel, den er für seine beiden Söhne annahm, auf dessen Führung er für seine Person aber verzichtete; 1893 erhielt er wegen seiner Shakespeare-Forschungen und seiner literarischen Tätigkeit auf wirtschaftlichem und sozialpolitischem Gebiete von der Universität Erlangen das Diplom als philosophischer Ehren- doktor. Daneben besaß O. vielfache und hohe Ordensauszeichnungen.

Emil Rittershaus sagt in seinem »Westfalenliede«: »Gradaus, das ist West- falenbrauch!« Diesen Heimatspruch hatte auch O. zum Ziel und Inhalt seines

6o Oechelhaeuser.

Lebens gemacht und sein ganzes Sinnen und Wirken danach eingerichtet. In der reichsdienstlichen Stellung haßte er »die patriotische Phrase«, die da- mals das Parlament sowie weite Kreise des Volkes und der Regierung be- herrschte; als Bürgermeister ging ihm das städtische Interesse jedem andern voran, und bei seiner Entschließung, die Stellung eines leitenden Direktors bei der Dessauer Gasgesellschaft anzunehmen, war für ihn das Bestimmendste, daß die Gesellschaft »auf solidester Grundlage errichtet war«. Nicht minder läßt sich der gleiche Grundzug seines Charakters in der offenen Freimütig- keit wiederfinden, mit der er seine politischen und sozialpolitischen Ansichten zu ergreifen und zu verfechten pflegte. Wo dieser Zug seines Wesens aber am schönsten und lautersten hervorbrach, das war im Umgang mit der großen Zahl seiner persönlichen Freunde, denen er vollste Aufrichtigkeit und anhängliche Treue entgegenbrachte. In dieser Beziehung hatte er sich einen Spruch aus Richard IL gewählt, den er oft und. gern anwendete:

»Ich achte mich in keinem Stück so glücklich, als daß mein Sinn der Freunde treu gedenkt.«

Dieses treue Gedenken, das er für seine Freunde hatte, werden auch diese ihm halten. Er ist geehrt worden von den Hohen, geschätzt und ge- achtet von den Mitarbeitern auf seinen verschiedenen Wirkungsgebieten; dankbar wird seiner aber auch der große Beamtenkreis gedenken, der unter ihm arbeiten durfte und dem seine Güte eine weitgehende Fürsorge ange- deihen ließ.

Am 25. September 1902 endete sein arbeits- und erfolgreiches Leben an den Folgen einer Lungenentzündung auf seiner Villa Belmonte zu Nieder- walluf im Rheingau. Seine Frau Emma, geb. Reinbach, war ihm bereits am 4. April 1876 im Tode vorangegangen. Von seinen beiden Söhnen folgte ihm der ältere, Dr. ing. Wilhelm von O., schon 1890 in seinem Berufe als General- direktor der Deutschen Continental-Gasgesellschaft; der jüngere ist Dr. phil. Adolf von O., Großherzogl. Geheimer Hofrat und Professor an der Technischen Hochschule zu Karlsruhe. In dem imposanten Trauergefolge, das der sterb- lichen Hülle Wilhelm O.s am 28. September in Dessau die letzte Ehren- bezeugung erwies, kamen seine Bedeutung und seine Beliebtheit noch einmal zu einem allgemeinen beredten Ausdruck.

Schriftlicher Nachlaß: Volkswirtschaft: »Die wirtschaftliche Krisis« (Berlin 1876); »Die Nachteile des Aktienwesens und die Reform der Aktiengesetzgebung« (Berlin 1878); »Die Tarifreform von 1879« (Berlin 1880). Sozialpolitik: »Die Arbeiterfrage« (Berlin 1886); »Die sozialen Aufgaben der Arbeitgeber« (in 2. Auflajje Berlin 1887); »Die Durchführung der sozialen Aufgaben im Verein der anhaltischen Arbeitgeber« (Berlin 1888); »Soziale Tages- fragen« (in 2. Auflage Berlin 1889). ■Shakespeare-Literatur und Geschichte: »Bühnen- und Familienausgabe von Shakespeares dramatischen Werken« (7 Bände, Weimar 1878); »Ein- führungen in Shakespeares Bühnendramen« (2. Auflage, 2 Bände, Minden 1884); »W. Shakes- peares dramatische Werke« im Auftrage der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft heraus- gegeben und mit Einleitungen versehen (Stuttgart 1891); »Einführung in Shakespeares Bühnendramen und Charakteristik sämtlicher Rollen« (3. Auflage, Minden 1895). Cber 30 Auflagen erlebte die einbändige billige V^olksausgabe (3 Mk.) eines ganz ungekürzten und fast unveränderten Neudruckes des Schlegel-Tieckschen Shakespeare (189 1).

Benutzte Literatur: »Erinnerungen aus den Jahren 1848 bis 1850« von W. Oechelhaeuser (Berlin 1892); Aktenmatcrial ; Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft 1903 und verschiedene Tageszeitungen.

Oechelhaeuser. Debrois van Bruyck. 6l

Ein sehr gutes Bild von Dr. Wilhelm Oechelhaeuser (Heliogfravure nach einem Öl- gemälde von Professor C. Gussow 1894) ist als Beilage zu den Verhandlungen des Deutschen Vereins für Gas- und Wasserfachmänner 1902 erschienen (Verlag von R. Oldenbourg, München und Berlin).

Dessau, Juni 1904. Wilhelm Klebe.

Debrois van Bruyck, Karl, 14. März 1828 zu Brunn, f 2. August 1902 zu Waidhofen a. Ybbs, Komponist und Schriftsteller. Als Sohn des k. k. Buchhaltungsbeamten Johann D. v. B. und einer geb. Mühlböck zu Brunn ge- boren, kam er frühzeitig nach Wien, wo er am akademischen Gymnasium (?) ausgebildet worden sein dürfte und dann die juridischen Studien begann. Nebenbei trieb er mit Lebhaftigkeit und Eifer die Musik und komponierte. Durch seinen Jugendfreund Karl Werner kam er zu Fr. Hebbel und gehörte dann neben Emil Kuh, F. Jachimowicz und anderen zu den eifrigsten An- hängern des Dichters, der ihn wegen seiner unstäten Art, seines sprunghaften Naturells ziemlich scharf in die Schule nahm und auch wesentlich förderte. D. wandte sich keinem bestimmten Beruf zu, sondern wollte sich als Musiker und Schriftsteller ausbilden, strebte zudem mit unzulänglichen Mitteln nach einer gewissen Goethischen Allseitigkeit, worin sich aber wohl mehr die ge- borene Dilettantenhaftigkeit äußerte. Mit lebhaftem Temperament und großer Begeisterungsfähigkeit verband sich nicht auch gründliches Studium und ver- tiefendes Arbeiten in den Grundlagen. Er war ein überzeugter Anhänger Robert Schumanns, für dessen Musik er in Wien theoretisch und praktisch Propaganda machte, wodurch er auch in direkte Beziehungen mit Schumann kam. Als Klavierspieler brachte er es so weit, daß er öffentliche Konzerte gab und später Klavierunterricht erteilte; als Komponist stand er, soviel ich beurteilen kann, wesentlich unter dem Einflüsse Schumanns, nach dessen »Frauenliebe und -leben« er in ganz gleicher Weise mit melodischem Reiz Hebbels Zyklus »Ein frühes Liebesleben« verarbeitete. Nur entbehrte er die unerläßliche Kenntnis des Kontrapunktes allzusehr, als daß er es in dieser Richtung zu wirklicher Künstlerschaft gebracht hätte. Auch als Schriftsteller, besonders über Musik und Literatur, mangelte es ihm keineswegs an guten Gedanken und glücklichen Einfällen, nur ließ die innere Zucht zu wünschen übrig und dadurch brachte er es niemals zu einem Stil. Eine gewisse Un- klarheit haftete ihm stets an, sodaß er fortwährend Anmerkungen zu seinem Text und Anmerkungen zu den Anmerkungen schreiben mußte, selbst in seinen Briefen. Dabei stak etwas vom Romantiker in ihm, er nimmt sich merk- würdig fremd in seiner Zeit aus und behielt bis in sein spätestes Alter Eigen- tümlichkeiten, die allmählich gänzlich verschwinden. So war er ein Brief- schreiber alten Stils, der mit einer kaum zu entziffernden Schrift Bogen auf Bogen füllte und darin seine Ansichten, Erlebnisse, Eindrücke breit entwickelte. Ein kleiner Zug möge das dartun. Als er einmal von meinem Vater Karl Werner zu einem mehrtägigen Aufenthalt nach Salzburg geladen worden war, Ende der siebziger Jahre, verfaßte er über diese Fahrt von Waidhofen an der Ybbs nach Salzburg und zurück eine »Reisebeschreibung« im Stile Sternes oder Jean Pauls. Freilich begreift man diese Versenkung ins Innere, wenn man seine Schicksale wenigstens einigermaßen kennt. Schon sehr früh war nämlich ein Ohrenleiden bei ihm aufgetreten, bereits zu Ende der fünfziger

62 Debrois van Bruyck. Wesendonk.

Jahre, es steigerte sich allmählich bis zur höchsten Schwerhörigkeit. Dazu war er niemals recht glücklich gewesen, weil ihm die Zufriedenheit fehlte und der Neid an ihm zehrte. Er maß sich selbst nur geringe Schuld bei, daß er es im Leben zu nichts brachte, und sah darin eine Tücke des Schicksals. Jedesfalls hielt er sich für origineller, als er war, denn ich meine, daß er stets von fremden Mustern bestimmt war und sich über sich selbst täuschte. Mit Hebbel zerfiel er, bald nachdem sich Emil Kuh von seinem »Meister« getrennt hatte, doch auch mit seinen nächsten Freunden kam er auseinander, die allmählich in feste Stellungen einrückten. Anfangs der sechziger Jahre (1862?) heiratete er nach heftigen Kämpfen seine Schülerin, die Tochter des reformier- ten Pfarrers Dr. Hermann Ernst in Wien, und kam dadurch in eine günstige Lage. Bald aber stellten sich Mißverständnisse ein und führten schließlich zur vollständigen Trennung der Gatten, wodurch D. in vorgerückteren Jahren wieder gezwungen war, sich sein Brot zu verdienen. Eine Zeitlang war er Lehrer an der Horakschen Musikschule. Als sein Ohrenleiden immer weiter fortschritt, zog er sich mit einer Cousine, die ihm die Wirtschaft führte, nach Waid- hofen a. d. Ybbs zurück und lebte dort hauptsächlich der Lektüre und der Briefkorrespondenz, nur ab und zu veröffentlichte er kleine Aufsätze und gut- gemeinte Gedichte. Eifrig korrespondierte er besonders mit Paul Heyse, zu dessen Verehrern er zählte; doch machte er auch für W. Raabe Propaganda und behielt seine alte Begeisterungsfähigkeit. Auch mit Karl Werner stand er während der letzten Jahre in ununterbrochenem Briefwechsel bis zu dessen Tod. Durch eine kleine Erbschaft war er den ärgsten Lebenssorgen entrückt und schrieb eine umfangreiche Selbstbiographie, die aber wegen seiner nahe- zu unleserlichen Schrift kein Verleger näher ansehen wollte; auch für seine Kompositionen fand er keinen Verleger. Als ihn nun das Unglück traf, daß seine gleichaltrige Cousine und Wirtschafterin bei Tisch an einem Stückchen Fleisch erstickte, verlor er jeden Lebensmut und machte einen Selbstmord- versuch, bei dem er aber gerettet wurde. Er erholte sich noch für kurze Zeit, setzte die Wiener Gesellschaft der Musikfreunde zur Universalerbin seines Nachlasses ein und starb wohl infolge des großen Blutverlustes nach kurzem Leiden, versehen »mit den Sterbesakramenten im 74. Lebensjahre«; die »Wiener Zeitung« widmete ihm einen kurzen Nekrolog. D. zählte zu den unglück- lichen Halbnaturen, die sich für ganz halten, und so zerfloß auch ihm sein Leben und sein Dichten.

Emil Kuh, Biographie Friedrich Hebbels, Wien 1877. II S. 422 f. R. M. Werner, Friedrich Hebbel, Berlin 1904 S. 291 ff. £. Hartick, Aus meinem Leben, Berlin 3. Aufl. 1894. Schumanns Briefe an D. bei VV. J. v. Wasieliewski. Robert Schumann. 3. Aufl. Bonn 1880 S. 429 ff. Friedrich Hebbels Briefwechsel, Berlin 1892 II S. 437 f. Private Mitteilungen, persönliche Erinnerungen und ungedruckte Briefe an K. Werner. Den Nachlaß habe ich nicht benutzt.

Lemberg. R. M. Werner.

Wesendonk, Mathilde, 23. Dezember 1828 zu Elberfeld, f 31. August 1902 in Traunblick. M. W. war die Tochter des Kgl. Kommerzienrats Karl Lucke- meyer und seiner Frau Johanna geb. Stein. Ihre Erziehung erhielt sie in Düsseldorf, wohin ihre Eltern später verzogen waren, und hernach in Dün- kirchen. Am 19. Mai 1848 verheiratete sie sich mit Otto Wesendonk

Wesendonk. ()7

(♦ i6. März 1815, t 18. November 1896, vergl. Biogr. Jahrbuch 3, 84*). Wesen- donk war Teilhaber eines großen Newyorker Seidenhauses, dessen Geschäfte er in Deutschland vertrat. Die Neuvermählten ließen sich zunächst in Düsseldorf nieder. Im Jahre 1850 reisten sie nach Amerika. 1851 kamen sie nach Zürich, wo sie zunächst im Hotel »Baur au lac« Wohnung nahmen. Den Winter ver- brachten Wesendonks zuerst einige Male im Süden oder in Paris, den Sommer in Zürich, wo sich Wesendonk endlich auch auf dem »grünen Hügel« in der Enge eine Villa erbaute, die aber erst am 22. August 1857 endgültig bezogen wurde. Ein kleines daneben liegendes Häuschen war von Wesendonk angekauft worden, der Baumeister Zeugherr baute es wohnlich und behaglich um, und Ende April 1857 konnten Richard Wagner und seine Frau, die bisher in den Escherhäusem am sog. Zeltweg gewohnt hatten, ins »Asyl« übersiedeln.

Die persönliche Bekanntschaft Richard Wagners, dessen künstlerische Größe ihnen zuvor in einem Konzert bei Aufführung einer Beethovenschen Sinfonie sich geoffenbart hatte, machten Wesendonks im Jahre 1852. Frau W. erzählt in ihren Erinnerungen, wie sie ganz unbelehrt, gleichsam wie ein weißes, unbeschriebenes Blatt, nach Zürich kam und welch tiefe Eindrücke sie allmählich durch Wagner gewann.

M. W. ist die Verfasserin der von Wagnej im Winter 1857/8 vertonten »fünf Gedichte«. Aus der Musik zu den »Träumen« ward in Venedig 1858/9 die Liebesnacht des zweiten Tristanaufzuges. Und aus dem »Treibhaus« ging die trauerschwere Stimmung des dritten Tristanaufzuges wie die Blüte aus der Knospe auf. Das Verhältnis zu M. W., dessen erhabene Schönheit und Reinheit aus den nunmehr veröffentlichten Briefen vor aller Augen steht, fällt in einen wichtigen Lebensabschnitt des Meisters. Er schreibt im Rück- blick auf die Züricher Jahre: »Mir ist recht deutlich, daß ich nie etwas Neues mehr erfinden werde: jene eine höchste Blütenzeit hat in mir eine solche Fülle von Keimen getrieben, daß ich jetzt nur immer in meinen Vorrat zurück- zugreifen habe, um mit leichter Pflege mir die Blume zu erziehen.« Ring Tristan Parzivalentwurf und endlich aus der Todessehnsucht des Tristan die das Leben durch Entsagung überwindende, aber nicht verneinende Dichtung der Meistersinger also Blütenpracht und spätere reifste Lebensfrucht! Frau W. war in jener Zeit die Vertraute seines Herzens und erfuhr alles, was seine Seele bewegte. Auch nach seinem Weggang aus Zürich im August 1858 blieb er mit ihr im regsten Briefwechsel bis zum Dezember 1863. Wie ein milder Engel erschien ihm die Freundin oft in den Nöten und Stürmen des Lebens und einmal nennt er sie auch Elisabeth, womit das Verhältnis aufs zarteste angedeutet wird. Es wäre ganz irrig, in M. W. das Urbild der Isolde zu sehen. Ihrem Wesen fehlt durchaus der leidenschaftlich heroische Zug. Viel eher könnte man in Hans Sachs und Evchen einen Nachklang persön- licher Empfindungen erblicken. Aber auch dieser Vergleich gilt nur sehr allgemein beim Anklang einzelner verwandter Stimmungen zwischen dem Kunstwerk und Leben. Wenn man die Meisterbriefe durchliest, mag man an Goethe und Frau von Stein denken. Und so ist auch M. W. durch Richard Wagner unsterblich geworden.

Im Frühjahr und Sommer 1858 waren die nachbarlichen Beziehungen zu W.s durch die krankhaft überreizte Stimmung Minnas, der Frau Wagners, mehrfach gestört worden. Das Asyl auf dem grünen Hügel war auf die Dauer

64 VVesendonk. Habart.

nicht mehr zu erhalten. Zwischen Frau Minna und Frau W. war es zu Aus- einandersetzungen gekommen. Eine Versöhnung war nicht mehr möglich. Würdige und wünschenswerte Beziehungen zum Nachbarhause waren in Minnas Anwesenheit nicht mehr herzustellen. Was schließlich den Meister zwang, das Asyl aufzugeben, hat er selber in einem Brief an seine Schwester Kläre vom 20. August 1858 ausgesprochen, »um Aufklärungen zu geben, wo sie nötig sein sollten.«

Wagner ging im August 1858 über Genf nach Venedig, um den zweiten Aufzug des Tristan auszuführen. Im April 1859 n^ihm er in Luzem im Schweizerhof Wohnung, um den dritten Aufzug auszuarbeiten. Der persön- liche und briefliche Verkehr mit W.s wurde aufs lebhafteste gepflegt. Im September reiste Wagner zu mehr als zweijährigem Aufenthalte nach Paris. Von hier gingen die ausführlichsten Berichte an die Freundin. Otto W. reiste zum Tannhäuser im März 1861 nach Paris. Ins Asyl auf dem grünen Hügel ist Wagner nicht mehr eingezogen. Kurz vor der entscheidenden Wendung im März und April 1864 weilte er bei Frau Wille auf Mariafeld, nicht auf dem grünen Hügel.

Die weiteren Lebensereignisse von M. W. sind rasch erzählt. 1872 ver- ließen W.s den grünen Hügel, und zogen nach Dresden. Im Winter 188 1 82 weilten sie in Kairo und siedelten im Herbst 1882 nach Berlin (seit Früh- jahr 1887 in den Zelten 21) über. 1878 hatte W. den Landsitz Traunblick am Traunsee im Salzkammergut erworben, wo gewöhnlich Sommeraufenthalt genommen wurde. In Traunblick starb Frau Mathilde, seit 18. November 1896 Witwe, ganz plötzlich nach nur achtstündiger Krankheit am 31. August 1902, Mittags I Uhr. Die freundschaftlichen Beziehungen zu Richard Wagner und seinem Hause waren stets aufrecht erhalten geblieben.

M. W. schrieb Gedichte, Märchen, Dramen, die teilweise in Privatdrucken erschienen. Ich nenne hier: Gedichte, Zürich o. J.; Gedichte, Leipzig 1874; Märchen und Märchenspiele, Zürich 1864 und Berlin 1900; Naturmythen, Zürich 1865; Der Baidurmythus, Dresden 1875; Gudrun, Zürich 1868; Edith oder die Schlacht bei Hastings, Stuttgart 1872; Friedrich der Große, Berlin 1872; Kalypso, ein Vorspiel, Dresden o. J.; Odysseus, Dresden 1878; Alkestis, Leipzig 1881 u. 1898. Keine selbständige Gestaltungskraft, wohl aber feines poetisches Nachempfinden tritt in allen diesen Schriften hervor.

Vgl. Richard Wagner an Mathilde VV., Tagebuchblätter und Briefe 1853—71, Berlin 1904. Briefe Richard Wagners an Otto W., Charlottenburg 1898.

Wolfgang Golther.

Habart, Johann, k. u. k. Oberstabsarzt 2. Kl., Privatdozent der Kriegs- chirurgie, * 23. September 1845 in Vonikov (Böhmen), f ^9- April 1902 in Wien. Militärzögling der ehemaligen Josefsakademie, 1873 zum Dr. der gesamten Heilkunde promoviert, war H. während des Okkupationsfeldzugs in Bosnien tätig, 1885 1895 Gardearzt der königlich ungarischen Leibgarde, habilitierte sich auf Anregung von Theodor Billroth im Jahre 1894 an der Universität in Wien, wurde schließlich Chefarzt der chirurgischen Abteilung des Garnisonspitals Nr. 2. Er war der wissenschaftlich bedeutendste Arzt des k. und k. Heeres während des 19. Jahrhunderts, einer der ersten über- haupt, welche die moderne Geschoßfrage vom experimentellen Standpunkt

Habart. von Mantey. ße

bearbeitet haben, wurde jedoch dienstlich nicht entsprechend gewürdigt, vermochte auch an der Universität die Errichtung einer Lehrkanzel für Kriegschirurgie nicht durchzusetzen und starb aufs tiefste verbittert.

Hauptwerke: Die Geschoßfrage der Gegenwart und ihre Wechselbeziehungen zur Kriegschirurgie. Wien 1890 (französisch von Level); Die Geschoßwirkung der 8 mm- Handfeuerwaffen an Menschen und Pferden. Mit 5 Tafeln. Wien 1892; Das Klcinkaliber und die Behandlung der Schußwunden im Felde. Wien 1894; Quellen Verzeichnis zur Bio- graphie: Töply (R. R. V.), Johann Habart, in der Zeitschrift »Der Militärarzt« Nr. 9. u, 10. Wien 1902.

Wien, 30. Juni 1904. R. R. v. Töply,

Mantey, Eberhard von, General der Infanterie z. D., 23. Juni 1835 zu ückermünde, f am 12. Juni 1902 zu Dessau. M. trat am i. Oktober 1853 als Einjährigfreiwilliger in die 2. Pionier-Abteilung ein und besuchte von 1854 bis 1857 die Vereinigte Ingenieur- und Artillerieschule, im Oktober 1855 zum Portepeefähnrich und im März 1856 zum Sekondleutnant aufrückend. Nach beendigtem Lehrkursus wurde er zunächst der 3. und im September 1859 der 6. Pionier- Abteilung zugewiesen, kam alsdann im Juli 1860 zur Fortifi- kation in Glogau und wurde 1861 Adjutant der 2. Pionier-Inspektion. Im Feldzuge von 1864 in Schleswig fand er Verwendung als Ingenieuroffizier beim Stabe des Generalkommandos des preußischen kombinierten Armee- korps, beteiligte sich in dieser Stellung sowohl an dem Erkundungsgefecht vor Düppel am 22. Februar, als auch am Gefecht bei Düppel am 17. März, an der Erstürmung und Belagerung der Düppeler Schanzen am 18. April, wie am Übergange nach Alsen am 29. Juni. Nach der Rückkehr in die Friedensverhältnisse wurde M. im Frühjahr 1865 dem mit der Abfassung eines neuen Sappeur-Reglements beauftragten Oberst von Schweinitz auf mehrere Monate zur Verfügung gestellt und leitete während dieses Komman- dos im Sommer gleichen Jahres die Zeltlagerarbeiten auf der Lockstedter Heide in Holstein. Später dem Gouverneur des Herzogtums Schleswig bei- gegeben, trat M. nach Beendigung dieses Kommandos zum Generalstabe des V. Armeekorps über, in welcher Stellung er im Kriege von 1866 gegen Österreich die Gefechte bei Nachod, Skalitz, Schweinschädel und Gradlitz sowie die Schlacht von Königgrätz mitmachte. Nach dem Friedensschlüsse wurde er als Kompagnieführer zum i. westpreußischen Grenadierregiment Nr. 6, 1868 als solcher zum i. niederschlesischen Infanterieregiment Nr. 46 komman- diert und am folgenden 22. März als Kompagniechef in das 2. nassauische Infanterieregiment Nr. 88 versetzt. In dieser Stellung wirkte M. bis zum März 1870, zu welchem Zeitpunkte seine Versetzung in den großen General- stab bezw. bei der Mobilmachung zum Generalstabe des V. Armeekorps erfolgte. Im Kriege gegen Frankreich nahm er am Treffen von Weißenburg, der Schlacht bei Wörth, dem Avantgardengefecht bei Stonne, der Schlacht bei Sedan, dem Gefecht bei Petit-Bicötre, der Einschließung von Paris, dem Ausfallgefecht bei La Malmaison und an der Schlacht beim Mont Valerien teil, wofür er beide Klassen des Eisernen Kreuzes sowie das Ritterkreuz I.Klasse des bayrischen Militär- Verdienstordens erhielt. Im September 1870 zum Major befördert, wurde M. nach Beendigung des Feldzuges am 18. Sep- tember 1875 geadelt, am 22. März 1876 zum Oberstleutnant, am 3. Februar 1875

Bio|7. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog'. 7. Bd. c

66 von Mantey. von Ditfurth.

zum Abteilungschef im Großen Generalstabe, später zum Lehrer an der Kriegsakademie und am nächsten 14. April zum Mitgliede der Studien- kommission für das Kadettenkorps ernannt, auch im Jahre 1878 zu den unter Leitung des Generals v. Verdy bei Straßburg i. E. stattfindenden Übun- gen im Festungskriege hinzugezogen sowie im September 1880 zum Oberst befördert. Als solcher wurde er am 4. Juni 188 1 Kommandeur des 3. west- fälischen Infanterieregiments Nr. 16, erhielt am 11. März unter Beförderung zum Generalmajor die 16. Infanteriebrigade und trat, nachdem er die 29. Division seit dem 19. September 1888 geführt hatte, unterm darauffolgen- den 15. Oktober an deren Spitze. Am 11. Februar 1892 in Genehmigung seines Abschiedsgesuches zur Disposition gestellt, erhielt M. am 22. März 1897 den Charakter als General der Infanterie.

Nach den Akten. Lorenz en.

Ditfurth, Barthold von, General der Infanterie z. D., 2. November 1826, f in der Nacht vom 16. zum 17. Juni 1902 in Berlin. Nachdem D. seine Erziehung im elterlichen Hause erhalten hatte, trat er am 29. Juli 1844 ^ils Gemeiner auf Beförderung in das i. Garderegiment zu Fuß ein, wurde am 21. Juni 1846 Sekondleutnant und machte im März 1848 die Barrikadenkämpfe in Berlin mit. Später war er vom Mai 1849 ^^^ ^""^ Dezember 1850 zum 3. Bataillon des 3. Garde-Landwehr-Regiments, auch vom i. Oktober 185 1 auf 3 Jahre zur Allgemeinen Kriegsschule (Kriegsakademie) kommandiert. Inzwischen zum Premierleutnant aufgerückt und in das Garde-Schützenbataillon versetzt (23. Juni 1855), erhielt er am i. Juni 1856 ein dreijähriges Kom- mando zum Topographischen Bureau, wurde am 31. Mai 1859 ^""^ Hauptmann befördert und ein Jahr später zum Kaiser Franz-Grenadierregiment komman- diert, auch am nächsten i. Juli in dieses Regiment versetzt. Seit dein 19. September 1860 Kompagniechef, zog er 1866 mit seiner Kompagnie gegen Österreich ins Feld, wo er sich im Gefecht bei Soor und in der Schlacht bei Königgrätz auszeichnete. Nach Friedensschluß kam D. (30, Ok- tober 1866) als Major zum Generalstabe der 8. Division und wurde im Januar 1868 unter Stellung ä la suite des Generalstabes der Armee Direktor der Kriegsschule in Erfurt. Bei Ausbruch des Krieges gegen Frankreich fand er Verwendung als Chef des Generalstabes der General-Etappen-Inspek- tion und nahm an der Belagerung von Metz, auch später an der Schlacht an der Hallue teil. Nach Beendigung des Krieges trat D. im April 187 1 in die Direktorstelle in Erfurt zurück, stieg am 18. August 1871 zum Oberst- leutnant auf und wurde am 28. Dezember 1872 zum Kommandeur des Füsilierbataillons 3. posenschen Infanterieregiments Nr. 59 ernannt. Darauf am 16. August 1873 mit Führung des 4. posenschen Infanterieregiments Nr. 59 beauftragt und am 2. September zum Oberst befördert, erhielt er am 14. Fe- bruar 1874 endgültig das Kommando dieses Regiments und am 7. April gleichen Jahres dasjenige des Kadettenhauses zu Berlin. In dieser Stellung verblieb D., bis ihm am 3. August 1876 das Kommando des anhaltschen Infanterieregiments Nr. 93 übertragen wurde. Am 28. November 1879 mit Führung der 57. Infanteriebrigade betraut, erhielt er unter Beförderung zum Generalmajor am 11. Dezember das Kommando dieses Truppenteiles, wurde

von Ditfurth. von Dömberg. Müller, Wilhelm. 67

am 12. Januar 1884 Generalleutnant und Kommandeur der 5. Division und trat am 12. Juli 1888 in den Ruhestand.

Nach den Akten. Lorenzen.

Dömberg, Ferdinand Frhr. von, Generalleutnant z. D., 10. Juli 1833 ^u Siegen, f am 15. August 1902 zu Cassel. D. trat am 5. November 1852 als Grenadier auf Beförderung in das damalige Garde-Reserve-Infanterieregiment, jetzige Garde-Füsilierregiment ein, in dem er unterm 11. Juni nächsten Jahres zum Portepeefähnrich aufrückte. Bei seiner am 7. März 1854 erfolgten Be- förderung zum Sekondleutnant wurde er in das 9. Husarenregiment versetzt, wirkte hier von August 1857 bis Juli 1860 als Regimentsadjutant, wurde darauf als Adjutant zur 15. Kavalleriebrigade bis Juni 1864 kommandiert, während welches Zeitraums er am 13. November 1863 die Premierleu tnants- steme erhielt; im Mai 1866 kam er als Adjutant zum General-Kommando des VIII. Armeekorps. Im Kriege desselben Jahres gegen Österreich fungierte D. als Adjutant beim Ober-Kommando der Eibarmee und trat nach Beendi- gung des Feldzuges zum Regiment zurück, wo er am 30. Oktober 1866 zum Rittmeister und Eskadronschef aufstieg. Am 10. Februar 1870 wurde er wiederum als Adjutant zum General-Kommando des XI. Armeekorps kom- mandiert. Während des Krieges von 1870/71 verblieb er in dieser Stellung, in der er sich beide Klassen des Eisernen Kreuzes und andere Kriegsdeko- rationen erwarb. Auch nach dem Friedensschluß blieb er weiter als Adjutant tätig, erhielt am 23. Oktober 1873 den Charakter und am 16. April 1874 das Patent als Major, wurde am 15. Juli 1875 unter Enthebung von seinem Kommando als etatsmäßiger Stabsoffizier in das westfälische Ulanenregiment Nr. 5 versetzt und am 7. Dezember 1880 mit der Führung des Dragoner- regiments Nr. 14. unter Stellung ä la suite dieses Truppenteils beauftragt. Die Beförderung D.s zum Oberstleutnant erfolgte am 16. September 1881 und am 18. Oktober dieses Jahres jene zum Regimentskommandeur; am 14. Juli 1885 erhielt er das Patent als Oberst. Nach weiteren zwei Jahren am 22. März 1887 zum Kommandeur der 18. Kavalleriebrigade ernannt, wurde er am 17. April 1888 Kommandant von Altona und der in Hamburg stehen- den Truppen. Am 6. November 1888 zum Generalmajor aufgestiegen, erhielt D. am 16. Mai 1891 den Charakter als Generalleutnant und schied am 7. Juni 1894 aus dem Dienste aus.

Nach den Akten. Lorenzen.

Müller, Wilhelm, Generalleutnant z. D., * 9. April 1834 zu Zülzendorf im Kreise Nimptsch in Schlesien, f 27. Juli 1902 zu Berlin. Als Einjährig- freiwilliger am I. April 1853 in das 10. Infanterieregiment eingestellt, wurde M. am 14. September 1854 zum Portepeefähnrich nnd am 11. Sep- tember folgenden Jahres zum Sekondleutnant ernannt. Nach einer längeren Dienstleistung bei der Gewehr- Prüfungs- Kommission in Spandau zum Ka- dettenhaus in Bensberg als Erzieher kommandiert, wurde er im April 1861 als Lehrer an das damalige Kadettenhaus in Berlin versetzt. In dieser Stellung verblieb er bis zum 10. April 1862, an welchem Tage er zum Premierleutnant befördert in das Kadettenkorps übertrat. Bei der Mobil- machung des Jahres 1866 gegen Österreich in das i. posensche Infanterie-

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6g Müller, Wilhelm, von Leonhardi.

regiment versetzt, zog er mit diesem ins Feld, wo er sich durch sein Ver- halten vor dem Feinde den Roten Adlerorden mit Schwertern erwerben durfte und am i6. August zum Hauptmann aufstieg. Auch am Feldzuge gegen Frankreich von 1870/71 nahm er bei seinem Regiment teil, wurde nach dessen Beendigung im September 1875 diesem als Major aggregiert und im Mai des folgenden Jahres als etatsmäßiger Stabsoffizier in das 6. pommersche Infanterieregiment versetzt. Hier wurde er am 6. Juli 1876 Kommandeur des Füsilierbataillons, avancierte am 13. September 1882 zum Oberstleutnant und am 15. November 1883 zum etatsmäßigen Stabsoffizier. Am i. April 1885 erhielt M. das Kommando des Reserve-Land weh rregiments Nr. 35 (2. Berlin) mit dem Range eines Regimentskommandeurs, wurde am 18. September 1886 zum Oberst und am 8. März 1887 zum Kommandeur des 3. pommerschen Infanterieregiments Nr. 14 ernannt. Zwei Jahre später am 19. November 1889 unter Ernennung zum Generalmajor zum Kommandeur der 29. Infanterie- brigade in Köln befördert, wurde M. im Juni 1892 mit der Führung der 12. Division beauftragt, deren Kommando er im darauffolgenden Monat er- hielt. Am 13. März 1894 erfolgte in Genehmigung seines Abschiedsgesuches sein Austritt aus dem aktiven Dienst.

Nach den Akten. Lorenzen.

Leonhardi, Bernhard von, Königl. sächs. Generalleutnant a. D., * 21. Ok- tober 1817 zu Zschepplin bei Eilenburg, f 26. August 1902 zu Nyitra-Sarfö in Ungarn. Im Jahre 1830 in das Dresdener Kadettenkorps eingetreten, kam L. nach beendigter Ausbildung am i. Juli 1835 als Portepeejunker in das 2. sächsische Schützenbataillon, wo er am i. Mai 1836 zum Leutnant und am 18. Dezember 1845 zum Oberleutnant befördert wurde. Nach seiner am I. Januar 1846 erfolgten Versetzung in das i. Linien-Infanterieregiment »Prinz Albert« wurde er am i. April 1847 ^^^ Adjutant zur i. Linien-Infanteriebrigade und genau ein Jahr später in gleicher Eigenschaft zur 2. Linien-Infanteriebrigade ernannt, in welcher Stellung er im Stabe des kommandierenden Generals des sächsischen Bundeskontingents den Feldzug von 1849 i" Schleswig-Holstein gegen die Dänen mitmachte und namentlich am Gefecht bei Düppel teil- nahm. Im Dezember desselben Jahres wurde L. unter Versetzung als Adju- tant zum Stabe der i. Infanteriedivision seinem Regiment als Hauptmann aggregiert. Am 24. Januar 1850 dem 16. Infanteriebataillon als etatsmäßiger Hauptmann und am 17. November 1861 der Leibbrigade als Major zugeteilt, erhielt er am 20. Juli das Kommando des 9. Infanteriebataillons, das er auch 1866 im Feldzuge gegen Preußen führte und mit dem er sich im Gefecht bei Lubnow und in der Schlacht bei Königgrätz rühmlichst auszeichnete. Nach Beendigung des Krieges in die Heimat zurückgekehrt, rückte L. alsbald zum Oberstleutnant auf, erhielt am i. April das Kommando des 8. Infanterie- regiments Nr. 107 und wurde bald darauf zum Oberst befördert. Im Feldzuge von 1870/71 wurde er, kurze Zeit vor dessen Beginn mit der Führung der 3. Infanteriebrigade Nr. 47 beauftragt, zum Generalmajor und Komman- deur dieses Truppenteiles ernannt, an dessen Spitze I^. besonders in der Schlacht bei St. Privat reichen Lorbeer erntete, selbst aber am Ellen- bogengelenk schwer verwundet wurde. Nach Heilung seiner Verwundung kehrte L. im März 187 1 zu seiner Brigade zurück, die er noch zwei Jahre

von Leonhardi. Mähly. gg

nach Beendigung des Krieges befehligte, bis er am 12. April 1873 zum Kommandanten der Festung Königstein ernannt wurde und hier 1876 zum Generalleutnant aufrückte. Von dieser Stellung am 16. Februar 1884 ent- bunden, trat L. kurze Zeit darauf in den Ruhestand.

Nach Militär-Zeitung. Lorenzen.

Mähly, Jakob Achilles, Philologe und Schriftsteller, * 24. Dezember 1828 in Basel, f i4- Juni 1902 ebenda. Sohn eines Küfermeisters, durchlief M., glücklich begabt, das Gymnasium seiner Vaterstadt und wandte sich 1847 dem Studium der klassischen Philologie zu, für die schon frühe seine Neigung erwacht war. Bereits 1850 bestand er sein Doktorexamen, nachdem er neben der Basler noch die Göttinger Universität besucht hatte. Der Dreiundzwanzigjährige habilitierte sich dann an der Basler Hochschule, widmete sich aber daneben dem Lehrerberuf, erst am Realgymnasium, wo er, ein Meister der Schön- schreibekunst, Schreibunterricht zu erteilen hatte, dann am obern Gymnasium für Latein und Griechisch. 1864 rückte er zum Extraordinarius, 1875 ^""1 Ordinarius der klassischen Philologie vor, welche Stellung er, in Verbindung mit der Tätigkeit als Schullehrer, bis Frühjahr 1890 bekleidete. Ein Hals- leiden, das immer stärkeren Umfang annahm und ihm das laute Sprechen zur Qual, ja zur Unmöglichkeit machte, zwang ihn zum Rücktritt. Als pensionierter Professor was in der Schweiz ein wenig beneidenswertes Los ist sah er sich künftighin in noch weit höherem Grade als bisher genötigt, durch Schriftstellerei sich finanzielle Quellen zu erschließen, denn eine zahlreiche F'amilie, für die er in musterhafter Treue besorgt war, wollte unterhalten sein. Diese äußere Nötigung zu vermehrtem schriftstellerischem Betrieb hat M. nicht zu besonderem Vorteil gereicht: federgewandt, wie er von jeher war, und über ein vielseitiges Wissen und Interesse verfügend, geriet er in ein Vielschreiben hinein, das nur zu oft den Charakter der Flüchtigkeit und der gar zu raschen Orientierung auf allen möglichen Gebieten an sich trug. Und für eigentlich wissenschaftliche, weniger lukrative Arbeit fand er immer weniger Muße und innere Sammlung. So bedeutete sein nach schwerem, noch zu einer Kehlkopfoperation führendem Leiden erfolgter Tod keinen Verlust der philologischen Wissenschaft, für die er doch von Hause aus so wundervoll begabt war, daß ein Fachmann sich einmal dahin geäußert hat : bei größerer strengerer Konzentration hätte M. einer der ersten Philologen werden können. M. verfügte über eine ganz erstaunliche Kenntnis des Griechischen und Lateinischen. Improvisationen in diesen beiden Sprachen schüttelte er bei festlichen Anlässen aus dem Ärmel. Schwierigkeiten in den antiken Autoren gab es für ihn sozusagen keine. Aus dem Stegreif übersetzte er sie in geschmackvollster Weise. Er hat denn auch sein Talent vielfach in den Dienst der Übersetzungskunst gestellt: griechische und römische Lyriker, Tragiker, aber auch Prosaiker hat er in schöner Diktion weiteren Kreisen vermittelt. Seinen Unterricht in der Schule machte nicht zuletzt seine P'orderung nicht bloß korrekter, sondern auch stilistisch einwandsfreier Über- setzung zu einem bildenden. Von aller Pedanterie war er als Lehrer frei; allerdings verlieh sein allzu sorgloses Sichverlassen auf das wohlassortierte Wissen und den mühelos sprudelnden Quell geistreicher Einfälle den Universitätsvorlesungen manchmal mehr das Gepräge unterhaltsamer Improvi-

70 Mähly.

sationen als eines wohlpräparierten, methodisch geführten Lehrvortrags. Vor lauter Geist kam die Solidität zu kurz.

In der Wissenschaft der Philologie hat M. wohl wenige bleibende Spuren hinterlassen. Vielleicht sein Bestes gab er in den Arbeiten auf dem Gebiete der Geschichte seiner Wissenschaft. 1862 erschien in Basel die 150 Seiten starke Studie über Sebastian Castellio als biographischer Versuch; die reichen An- merkungen zu dieser Arbeit zeigen, daß der Zusatz »nach den Quellen« voll- berechtigt ist. Zwei Jahre später veröffentlichte M. in der Stadt, in der die »Kultur der Renaissance« erschienen war, seinen »Angelus Politianus«; ein Kulturbild aus der Renaissance hat er die Studie zubenannt; das Werk Jakob Burckhardts, dessen anfangs freundschaftliches Verhältnis zu M. sich später ins Gegenteil verwandelt hat, wird einige Male in der Politianus-Schrift zitiert, die sich flüssig und angenehm liest, was übrigens allen Arbeiten M.s nach- gerühmt werden darf. Man erhält den Eindruck, daß M. sich mit Behagen in dieses Humanistenleben versenkt hat. Es steckte in ihm selbst ein gut Stück von diesem Typus; und wenn er u. a. von Politianus schreibt: »auch das Satirische, der persönliche Angriff, das Element des rücksichtslosesten Schmähens, des bittersten Hohnes findet sich bei ihm vertreten« so sind selbst das Züge, die dem Wesen M.s nicht fernlagen. Sein scharfer Spott und sein beißender Hohn haben ihm manchen Feind gemacht; auch in der Schule verschmähte er es nicht, dieser pädagogisch gefährlichen Waffen sich zu bedienen. Die umfangreichste der philologiegeschichtlichen Arbeiten M.s ist die Biographie Richard Bentleys, des großen englischen Philologen. In Leipzig ist sie 1868 erschienen. Wenn es da u. a. heißt: »Langweilig wird Bentley nie, er fesselt nicht nur die gelehrten, auch die gebildeten Leser«, oder: »viele Momente der Eile, ja der flüchtigen Hast lassen sich in seinen Werken nachweisen ; wer ihn aber über Schlaffheit oder Schläfrigkeit ertappen wollte, würde sich vergebliche Mühe machen« so könnte man diese Sätze ohne weiteres auf eine Charakteristik des schreibenden Mähly anwenden, und man begreift, daß er sich mit einer besonderen Sympathie mit dem alten Engländer beschäftigt hat, in dessen Geistesart er entschiedene Ähnlichkeiten mit seinem eigenen Wesen entdeckte. Daß die wahrhaft geniale Divinationsgabe, die Bentley auf dem Gebiete der Konjekturalkritik von seinem Biographen nachgerühmt wird, auch bei diesem lebendig war, wollen wir nicht behaupten; nur so viel können wir sagen, daß auch M. das Konjekturenrößlein elegant und temperamentvoll zu tummeln wußte; auch hier hat er sich vielleicht nur zu gern der geistreichen Improvisation überlassen. Aus den i86oer Jahren stammen die Vorlesungen über »Wesen und Geschichte des Lustspiels«, eine ziemlich hurtige Arbeit; seine 1880 erschienene »Geschichte der antiken Literatur« (1880) ist zu sehr auf Popularität zugeschnitten, als daß ihr für die wissen- schaftliche Erhellung des Gegenstandes eine Bedeutung zukäme. Was M. im Lauf der letzten Dezennien seines Lebens in belletristischen Zeitschriften, als Mitarbeiter der Deutschen Biographie usw. veröffentlicht hat, ist Legion; auch für die Tagespresse setzte er seine flinke Feder oft und gerne in Bewegung. Der Reichtum .seiner Interessen und die weite Ausdehnung seiner Lektüre traten in diesen Arbeiten deutlich zu Tage, überdies seine rege Teilnahme an allem, was seine Zeit geistig bewegte. In dieser Beziehung war er nie ein Stubengelehrter. Fügen wir zum Schluß noch bei, daß Musik und Poesie

Mähly. von Planta« yi

zeitlebens seine guten Freunde waren. Wir hoben schon hervor seine unge- wöhnliche Leichtigkeit als Übersetzer auch poetischer Erzeugnisse. M. hat selbst viel und gerne gedichtet, hochdeutsch und mundartlich, Lyrisches und Dramatisches. Genaue Dialektkenner haben an seinen hübschen baseldeutschen Gedichten (»Rhigmurmel«, d.h. Rheingemurmel) manches auszusetzen gefunden, während formal und inhaltlich die hochdeutsche Liedersammlung »Leid und Lied« (1865) besonders hoch gewertet wird. Auch politische Satiren hat M. veröffentlicht. In der Schar der Basler Dichter, die freilich an poetisch schöpferischen Persönlichkeiten ungemein arm ist, nimmt M. eine ehrenvolle Stelle ein.

Von Literatur über Mähly ist uns nur zu Gesicht gekommen der Nekrolog Dr. F. Baurs (in der seither eingegangenen »Allg. Schweizer Ztg.« vom 19. Juni 1902), der dann im »Jahresbericht über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft« seinen Wieder- abdruck gefunden hat, sowie die bei der Beerdigung verlesenen Personalien.

H. Trog.

Planta, Peter Conradin von, Dr. jur. h. c, graubündnerischer Staats- mann, Jurist und Geschichtsschreiber, * den 24. September 181 5 im Schlosse Wildenberg zu Zernez in Unterengadin, f den 13. Septeniber 1902 zu Canova- Paspels, im Domleschg, Graubünden. Den ersten Unterricht empfing P. bei seiner Mutter und vom zehnten Jahre an bei Pfarrer Wetzel in Silvaplana (Oberengadin), einem in den zwanziger Jahren aus Gera eingewanderten jungen deutschen Flüchtling. Auch an der bündnerischen Kantonschule, die P. im Jahre 1828 bezog, genoß er den Unterricht und Umgang ideal angelegter deut- scher Burschenschafter; die Nachwirkung davon ist zeitlebens in ihm lebendig geblieben. Von der Leipziger Thomasschule, an die P. sodann überging, weiß er in seinem »Lebensgang« wenig gutes zu berichten; die Lehrweise wie die Behandlung der Schüler seien schablonenhaft gewesen und hätten von dem freien, idealen Geiste an der Churer Schule unangenehm abgestochen. Wäh- rend er in den Jahren 1835/6 an der Universität Leipzig eine gute allgemeine Bildung sich aneignete (er hörte Drobisch, Flathe, Wachsmuth u. a.), lag er von 1836 bis 38 in Heidelberg juristischen Studien ob. Heimgekehrt trat er als Sachwalter bei der Veltliner Confisca-Kommission ein, deren Aufgabe es war, die Erstattung des von den cisalpinischen Behörden im Jahre 1797 konfis- zierten bündnerischen Privateigentums zu bewirken. Die Publizistik zog ihn aber einstweilen mehr an als die Rechtshändel und so fand er sich gern bereit, die Redaktion einer Zeitschrift zu übernehmen, welche unter dem etwas sonder- baren Titel »Der Pfeil des Teilen, eine Monatsschrift für Volk, Wissenschaft und Politik« im Jahre 1841 in Zürich gegründet wurde. Die übernommene Aufgabe brachte ihm durch das Ausbleiben zugesagter Unterstützung der Gründer und Freunde des Unternehmens viel Verdruß, daneben aber auch den Gewinn ein, daß er mit vielen führenden Geistern des öffentlichen Lebens der Schweiz bekannt und zugleich mit den wichtigsten Fragen der eidgenössischen Politik vertraut wurde. P. befand sich damals ganz im liberalen Fahrwasser und in gleicher Richtung bewegte sich auch der von ihm im Jahre 1843 in Chur ins Leben gerufene »Freie Rätier<', in dem er für die Reform des bündnerischen Gemeindewesens, die Revision der Kantons- und der Bundesverfassung eintrat.

72 von Planta.

Von 1844 an versah P. neben der Redaktion die Stelle eines Stadt- schreibers von Chur; seine etwas freimütige Kritik der Stadtväter kostete ihm diese Würde jedoch schon nach drei Jahren. Er verfügte nun über ein Maß von Erfahrung in Öffentlichen Dingen, das ihn für den Eintritt ins aktive politische Leben geeignet erscheinen ließ und so wählten ihn seine Mitbürger 1849 in den »Großen Rat« und im Jahr darauf in die Regierung des Kantons. P. war so an erster Stelle mittätig bei der Umgestaltung, welche der Kanton Graubünden damals durchmachte und ihm die politische Organisation verlieh, die er im wesentlichen heute noch hat. Die neue Ära verlangte nun auch eine Vereinheitlichung des in zahlreichen Hochgerichts-Statuten niedergelegten kantonalen Privatrechts. Eine Anzahl graubündnerischer Juristen und Staats- männer haben von 1850 60 daran gearbeitet; mit der Schlußredaktion und der Abfassung der Kommentars wurde P. betraut. Er entledigte sich des Auftrages in so vorzüglicher Weise, daß die Arbeit ihm den Doktortitel h. c. der Zürcher Hochschule eintrug. In diese Zeit fällt auch die Wahl P.s ins graubündnerische Kantonsgericht, dem er bis 1874, von 1855 70 als Präsi- dent, angehörte. Zu verschiedenen Malen zwischen 1852 und 72 war P. auch Mitglied der eidgenössischen Räte und wenig kantonale und städtische Behörden sind es, denen er nicht zeitweise mit seinem reichen Wissen ge- dient hätte.

Inbezug auf seine politische Richtung war P. zeitlebens einem demokra- tischen Föderalismus zugetan. Er war ein Befürworter der 1848 er Bundes- verfassung gewesen, wollte sich aber auch bei den Revisionen von 1872 und 74 einer wirklich notwendigen Erweiterung der Bundeskompetenzen nicht wider- setzen. Dabei blieb er aber ein abgesagter Feind der anschwellenden Bundes- bureaukratie und die kräftigsten Worte sind seiner nimmermüden Feder ent- flossen, wenn es galt, das Volk vor der politischen Zentralisation, der bureaukradschen Hydra und der politischen Bevormundung zu warnen; auch für die Freiheit von Unterricht und Schule, gegenüber dem allumfassenden Zwang der Staatsschule, ist er mannhaft eingetreten und die Toleranz in reli- giösen Dingen ist ihm stets heilige Gewissenssache gewesen. Die größte Bedeutung P.s lag aber nicht auf dem Gebiete der aktiven Politik, sondern auf dem der historischen Forschung und der graubündnerischen Geschichts- schreibung (vgl. das nachfolgende Verzeichnis s. Werke). Seiner Initiative verdankt der Kanton die Gründung der historisch-antiquarischen Gesellschaft, deren viel jähriger Präsident er war, und des »Rätischen Museums« in Chur, das sich zur Aufgabe macht, die Zeugen bündnerischen, öffentlichen und pri- vaten Lebens und Schaffens dem Heimatkanton zu erhalten.

P. war ein Mann von philosophischem Geiste, ausgedehntem Wissen und unermüdlichem Schaffensdrange, daneben von einem unauslöschlichen Idealis- mus, der ihm über manche bittere Enttäuschung hinweghalf, ihn freilich auch ab und zu den Anforderungen einer harten Wirklichkeit nicht gerecht werden ließ. Die Volksschmeichelei und das Strebertum waren ihm in der Seele zuwider, seine Überzeugungstreue und Aufrichtigkeit über alle Zweifel erhaben. Von der Tiefe seines reichen, den höchsten Dingen ernstlich zugewandten Gemütes gibt auch der dichterische Nachlaß des edlen, bis zum Tode geistes- frischen Mannes Zeugnis.

Verzeichnis seiner Werke: i. Über den Geist unserer Zeit. Oder: Woher kommen

von Planta. Bauer. j^

wir und wohin gehen wir? Als Norm zu allf^lig in unserem bündnerischen Staatswesen vor- zunehmenden Reformen. Chur 1840. 8<>. 2. Rede über die aargauische Klosterangelegen- heit (Gehalten 1841 im bündnerischen Großen Rat). Chur. 8°. 3. Der Pfeil des Teilen. Schweizerische Monatsschrift für Volk, Wissenschaft und Politik. Zürich 1842 43. 4. Neue Helvetia. Eine Monatsschrift. (Redaktion Planta nicht genannt). Zürich 1843. 5. Der Freie Rhätier. 1843, 3. Oktober 1848, 25. Februar. Chur. Gebr. Sutter. 6. Das Wald- büchlein. Ein Wort zur Beherzigung ans Bündnervolk. Herausgegeben auf Veranstal- tung der Forstkommission. Chur 1848. 7. Der rätische Aristokrat. Bündnerisches Charakter- bild aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Chur 1849. 8<>. 8. Ritter Rudolf Planta. Ein Schauspiel. Chur 1849. 8<>. 9. Strafgesetzbuch für den Kanton Graubünden. 1851. 10. Der liberale Alpenbote. 1851 1856 (i. Juli). Chur, Hitz. 11. Die Wissen- schaft des Staates oder die Lehre von dem Lebensorganismus. 2. Aufl. 2 Teile (i Band). Chur 1852. g<>. 12. Kommissionalb ericht über die Reform unseres evangelischen Kirchen- wesens im Sinne einer freien Volkskirche. Chur. 1855. 8°. 13. Bündnerische Wochen- zeitung. Chur, Hitz. Großfol. Redaktor Planta. 1860, 18. März 1865, 25. März. 14. Das bündnerische Strafverfahren. Separat-Abdruck aus der Zeitschrift für schweizerisches Recht V, 2. 15. Bündnerisches